26. Magnifique

1.6K 136 50
                                    

Als ich zum Mittagessen in die Küche kam, spürte ich, wie ein wenig Enttäuschung meine Laune milderte. Da wurde mir klar, dass ich damit gerechnet hatte, Marco am Tisch vorzufinden. Jedoch saß nur sein älterer Bruder, mit dem Laptop auf dem Schoß, da. "Hallo, Hanna.", begrüßte er mich und biss von seinem Baguette ab. Anscheinend gab es wohl aufgebackene Kräuterbaguettes zum Mittag. Nichts Großes, da Franzosen es pflegten, erst abends groß zu Essen.

Ich nahm mir ebenfalls ein Stück und setzte mich zu Lucio an den Tisch. "Weißt du, ob ich die Reitschuhe auf der Steuererklärung abziehen kann?", fragte mich dieser auch bald. Überfragt zuckte ich die Schultern. "Immerhin ist es für uns ja Arbeitskleidung und nur im entsprechenden Fachhandel zu haben.", fuhr er fort und sah zum ersten Mal von dem Bildschirm auf.

"Ich kann mich zwar nicht wirklich daran erinnern, als wir damals im Unterricht Steuererklärungen durchgenommen haben, aber ich glaube, sobald man etwas auch in der Freizeit tragen kann, ist es nicht mehr abziehbar.", meinte ich.

Erstaunt hob der Arbeitende die Augenbrauen. "Ihr habt das in der Schule gemacht?" Ich nickte. "Deutscher Bildungsstandard und so..."

"Oh... ok. Wir nicht. Aber ich denke, du hast Recht. Sein Hobby zum Beruf zu machen ist Gift für eine Steuererklärung.", bestätigte er und tippte etwas in den Computer ein. Ich sah im zu, wie er konzentriert an der Steuererklärung arbeitete und aß währenddessen das Baguette fertig.

Anschließend führte mein Weg wieder in meinen Lieblingsraum des Hauses: Das Wohnzimmer mit den großen Bücherregalen, die von der Anzahl der Bücher schier zu platzen schienen. Den ersten Band, den ich mir vornahm, war ein Ratgeber zum Pferde einreiten. Vielleicht war es ganz nützlich, mal zu lesen, wie man es wirklich machte. Doch noch bevor ich die durchaus spannende und lustige Lektüre zur Seite legte, entdeckte ich ein anderes Buch, welches meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich zog "Die Legende des Senor Zorro", aus dem Regal und schlug das Andere zu, das meinte, mir gerade verklickern zu müssen, dass das Pferd sich unterwerfen müsse.

Zorro war schon viel spannender und so vergaß ich Recht bald das Zeitgefühl. Erst als Marco mich sanft aus meiner Lesestarre riss, indem er mich vorsichtig an den Schultern berührte. "Wir gehen in einer Stunde.", flüsterte er mir ins Ohr, was einen angenehmen Schauer über meinen Rücken jagte. Bevor er sich aber abwandte, drückte er mir noch einen sanften Kuss auf den Haaransatz. Ich erstarrte. Diese kleine Liebkosung fühlte sich so gut an...

Als ich mich endlich aus dieser Eisform lösen konnte, mich in dem Sessel umdrehte und ganz langsam erhob, musste ich schon feststellen, dass er schon lange gegangen war. Seine Berührung an meinem Hinterkopf kribbelte angenehm und wie im Rausch stand ich auf, um mich endlich fertig zu machen.

Zu meinem schwarzen Kleid zog ich eine schwarze Strumpfhose und, um das ganze farblich etwas aufzupimpen, eine dunkelblaue Weste an. Ich überlegte, ob ich mich schminken sollte und entschied dann, meine Augen etwas zu betonen, den Rest ließ ich aber so wie er war. Am liebsten hätte ich dazu meine schwarzen Ballerinas getragen, aber die hatte ich nicht dabei. Also mussten meine schwarzen Turnschuhe herhalten.

Jedoch führte das zu einem Schmunzeln, als ich vor dem Spiegel stand. Oben sah ich total herausgeputzt aus und unten dann die Turnschuhe...
Um das Ganze aber optimistisch zu sehen, redete ich mir ein, dass das dem Look etwas Charme verlieh und dazu führte, dass ich nicht so schlimm aufgesetzt aussah.

Meine Haare ließ ich, der Faulheit wegen, offen und flocht nur, als kleines Highlight, die silberne Strähne einmal nach unten durch, sodass es eine Art Braid gab. Mit einem Mähnengummi, den ich noch in der Tasche gefunden hatte, machte ich das Zöpfchen fest und strich sie dann hinters Ohr.

Anschließend entschied ich, dass das mehr als genug Aufwand für mein Aussehen war und ging die Treppe zur Küche/Esszimmer wieder hinunter. Mein Begleiter wartete schon dort. Er starrte auf den Bildschirm seines Handys und tippte irgendetwas schnell darin ein. Als ich hineinkam, hob er den Kopf und sah mich an. Zuerst zeigte er keine Regung und nervös blieb ich auf der untersten Treppenstufe stehen. Sah ich nicht gut aus?

"Wow... Hanna...", flüsterte er nur und seine Reaktion, die nach der Starre folgte, übertraf meine Erwartungen. Seine Kinnlade schien ihm nahezu bis auf den Boden zu fallen und er sah mich ungläubig an. "Du bist...", er brach ab und suchte nach Worten, um die Erscheinung vor sich zu beschreiben.

"...nicht in der Lage, dich schön anzuziehen?", fuhr ich an seiner Stelle fort und schmunzelte nervös. Auf einmal war mir sein Urteil über mein Aussehen total wichtig und ich betete inständig, er möge nichts Schlechtes sagen. Ich blieb weiterhin an meinem Platz stehen und knetete aufgeregt die Finger. Konnte er nicht endlich wieder etwas sagen?

Stattdessen stand er auf und lief langsam um den Tisch herum. Als er direkt vor mir stand, hob er die Hand und fuhr mir über die Wange. Als hätte er Angst, etwas kaputt zu machen.

"Nein, ich wollte sagen...", er holte tief Luft. Wie erstarrt stand ich da, kaum fähig mich zu bewegen. Es war eindeutig nicht mehr normal, was dieser Typ mit mir anstellte. Und das Schlimme war: Ich konnte es mir immer noch nicht erklären.

"Magnifique.", sprach er endlich das aus, was er über mein Aussehen dachte. Mein Gehirn ratterte. Ich durchsuchte sämtliche mögliche Übersetzungen für Magnifique raus, in der Hoffnung, er hatte nicht das gesagt, was ich dachte. Denn ich glaubte das einfach nicht. Doch, sosehr ich auch in meinem Gehirn grub, ich fand keine andere logische Übersetzung für Magnifique als
'Wunderschön'. Ich hielt meinen Atem an. Mein Herz raste in meiner Brust.

Er sah wohl, dass ich zu nichts mehr fähig war, denn er bot mir seinen Arm an und führte mich so, wie ein Gentleman, aus dem Haus. Ich konnte nicht genau beschreiben, was ich fühlte, denn es war merkwürdig. Es war mehr als merkwürdig und verwirrend. Warum bedeutete mir Magnifique aus seinem Mund so viel? War es nicht Sylvain gewesen, der mich zuerst geküsste hatte? Und war es nicht Sylvain gewesen, der zu mir gesagt hatte, ich sei schön? Warum war es mir bei Marco nicht egal? Ich verstand es einfach nicht.

Draußen wartete ein Taxi auf uns. Mein Begleiter blieb seinem Image treu und hielt mir die Tür auf, bevor er um das Auto herum lief und sich neben mich setzte. Er nannte dem Fahrer die Adresse und wir fuhren los.

Ich war viel zu aufgeregt, um etwas mit meinem Sitznachbar zu reden, deswegen blieb ich stumm und genoss nur seine Nähe. Bis mir schließlich einfiel, dass ich mein Handy dabei hatte und dieses merkwürdige Verhalten meinerseits bei Marco googlen konnte. Ich hatte zwar kein WLAN, aber eine grenzüberschreitende Flat, da ich ja in Frankreich als auch in Deutschland Zuhause war.

Jedoch saß ich so vor der Suchleiste bei Google und wusste einfach nicht, was ich eingeben soll. Gedankenverloren ging ich all die Sachen durch, die mir in der Gegenwart von Marco auffielen. Und plötzlich erinnerte ich mich wieder an den Tag als Marion mir erzählt hatte, was Liebe war. Langsam tippte ich Buchstabe für Buchstabe, auf Deutsch, ein: "Woran merke ich dass ich verliebt bin"

Innerhalb von wenigen Augenblicken spuckte mir die Suchmaschine tausende von Ergebnissen aus. Ich scrollte nach unten und entdeckte endlich einen Artikel, der mir gefiel.

"Man muss die ganze Zeit an ihn denken." "Man muss ihn die ganze Zeit anstarren, weil man sich nicht an ihm sattsehen kann." "Man hat das Bedürfnis, die ganze Zeit in seiner Nähe zu sein." "Stell dir mal vor, er würde auf einmal nicht mehr da sein."

Stimmt. Was wäre, wenn er auf einmal nicht mehr da wäre? Ich riskierte einen Blick auf ihn. Er hatte seinen Kopf auf eine Hand gestützt und sich ein wenig zu mir gedreht. Er schien, als würde er mich schon eine Weile so anschauen. Schnell sah ich wieder weg. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, ohne ihn zu leben. Bei der Vorstellung, er wäre auf einmal weg, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Vielleicht stimmte nicht alles, was im Internet geschrieben wurde, aber dennoch stand genug da, dass ich mir langsam, aber sicher wurde, dass es stimmte.

Marion hatte Recht. Sylvia hatte nicht Recht. Morendo lag falsch. Aber warum war Nathalie dann so gewesen? War es wirklich die fehlende Liebe in ihrem Leben, was sie umgebracht hatte? Ich sperrte mein Handy wieder und sah nach draußen. Mir fiel es schon jetzt schwer, mir einzugestehen, dass ich... Aber es konnte gar nicht anders sein. Mir war klar, dass ich Marco lieber hatte, als andere Menschen.

Als wir angekommen waren, öffnete mir Marco wieder die Tür und ich stieg langsam aus. Dann reichte er mir wieder den Arm und seine Nähe bereitete mir wieder dieses wohlige Gefühl, welches sie immer tat. Doch diesmal war es mir bewusst und jeden Schritt, den wir nebeneinander zusammen gingen, wurde mir mehr klar:

Ich liebte Marco.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now