20. Seniorenweide

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Am nächsten Morgen wurde ich von Mario geweckt, der es eilig zu haben schien. "Hanna, du hast heute Morgen einiges zu tun!", rief er noch, dann hörte ich ihn die Treppe hinunter rennen. Ich grummelte und zog meine Decke enger um mich. Denn irgendwie war es in dem Zimmer ziemlich kalt geworden. Und das, obwohl das Fenster geschlossen war. Dabei musste ich wohl wieder eingeschlafen sein, denn etwa zwanzig Minuten später wurde ich erneut wach, da Marco sich nicht um meine Privatsphäre scherte und einfach in mein Zimmer geplatzt kam. "Beweg dich aus dem Bett! Wir müssen gleich los!", rief er und zog mir die Decke weg. "Nein, Marco! Hör auf!", quietschte ich, als die plötzliche Kälte meinen gesamten Körper erfasste. "Ich denk nicht dran!", grinste er zurück und schmiss die Bettdecke in die andere Ecke des Zimmers. "Jajaja, ich steh ja schon auf. Aber nächstes Mal fragst du bitte, ob ich zum Schlafen etwas anhabe. Hätte ja auch nicht so sein können...", lachte ich und stand auf, um das wärmende, dicke Stück Stoff wieder einzusammeln. "Wieso? Dann hätte ich wenigstens etwas zu sehen gehabt!", er grinste und brachte sich schnell hinter der Tür in Sicherheit, bevor ich es schaffte, mein Kissen nach ihm zu werfen. Doch bevor er ging, kam sein Kopf nochmal für einen Moment zum Vorschein und er streckte mir noch rasch die Zunge raus, ehe er die Tür endgültig hinter sich zuzog. "Blödmann.", rief ich ihm noch lachend hinterher und machte mich dann daran, mir meine Reitklamotten anzuziehen.

Zehn Minuten später stand ich unten und nahm mir gerade ein Schokobrötchen, als mein persönlicher Teufel ebenfalls hineinkam. Wie hatte er es auch nur wagen können, mir einen Kälteschock am frühen Morgen zu verpassen? "Du ziehst dir besser nochmal etwas drüber. Es ist über Nacht empfindlich abgekühlt.", meinte er, nachdem er mir einen prüfenden Blick geschenkt hatte. "Wie viel Grad hat es denn?", wollte ich wissen und warf einen Blick aus dem Fenster. Es sah aus wie immer. "Minus Acht oder so. Jedenfalls müssen wir gleich los und den Alten Decken bringen. "Echt jetzt?", fragte ich ungläubig. Gestern war es doch noch zehn Grad wärmer gewesen... "Ja, du kannst es gerne ausprobieren.", schmunzelte er und deutete nach draußen. Doch allein bei dem Gedanken an die eisige Kälte, fröstelte ich schon. "Ich glaube, ich bevorzuge doch lieber die Wärme des Hauses.", gab ich also zurück. "Wir müssen aber gleich los.", drängte Marco. Ergeben stand ich auf und lief nochmal in mein Zimmer, um eine gefütterte Jogginghose über meine Reithosen zu ziehen. Auf einen zweiten Pulli verzichtete ich. Meine Jacke würde das aushalten. Nur nahm ich mir meine gefütterten Reithandschuhe noch mit und ging dann wieder hinunter, wo auch schon mein Begleiter an der Tür auf mich wartete. Ich zog mir noch Schuhe und Jacke an und folgte ihm dann nach draußen. Und es war wirklich unheimlich kalt. "Kann mal jemand eine Heizung anmachen?", grummelte ich, bevor ich die Tür zum Stall aufschob. Darin war es aber auch schon deutlich wärmer.

"Gibt es eine Vorgabe, welches Pferd ich nehmen soll, oder darf ich es mir aussuchen?", rief ich Marco nach, der schon in Richtung Diabolo verschwunden war. "Suchs dir aus!", kam es prompt lautstark zurück, um die Entfernung zu überbrücken. Na dann... "Vito? Zeig dich mal!", bat ich leise, um die Aufmerksamkeit meines Falben zu testen. Innerhalb von Millisekunden schoss sein Kopf aus der Öffnung der Tür und er sah mich erwartend an. Lächelnd begrüßte ich ihn mit einer Krauleinheit an der Stirn. Der Hengst seufzte kurz wohlig, dann trat er artig zurück, um mir Platz zu machen. Aus Faulheitsgründen entschied ich, mein Pferd ohne Sattel zu reiten und putzte ihn deshalb nur grob. Er war sowieso nicht sehr dreckig, da der Matsch auf der Weide anscheinend gefroren war. Da hatte das Wetter also doch seine guten Seiten. Um nur einmal laufen zu müssen, nahm ich Jovito direkt mit zur Sattelkammer, um ihn dort die Trense aufzuziehen. Jedoch weigerte er sich, auch nur einen Huf vor die Tür zu setzen. "Das ist mir zu kalt draußen.", beklagte er sich und stemmte sich gegen meinen schwachen Versuch, ihn zum Vorwärtslaufen zu überreden.

"Du hast ein Winterfell?!", meinte ich verwirrt. "Ja, und? Das reicht mir aber nicht aus!!", grummelte er und sah missmutig nach draußen. Ich verdrehte die Augen. "Rühr dich nicht vom Fleck, ja?", forderte ich ihn auf und er kam missmutig meiner Bitte nach. Da er nun direkt an der Tür stand, wehte immer noch ein kühler Luftzug in den Stall. Jedoch kümmerte mich das wenig, denn ich holte eine Abschwitzdecke aus Fleece, die ihm helfen sollte. Obwohl die Decke eigentlich Zweckentfremdet wurde, stellte sie Vito einigermaßen zufrieden und so lief er, kurz darauf, hinter mir über den Hof. Die Sattelkammer war zum Glück etwas beheizt, sodass das Gebiss der Trense nicht allzu kalt war, wenn mein Falbe es in den Mund nehmen musste. Mario hörte ich in seinem Nähzimmer arbeiten. Wahrscheinlich bastelte er an dem Sattel weiter, den ich neulich schon einmal bei ihm gesehen hatte. "Marco?", rief er fragend, als er die Tür hörte. "Nee, Hanna.", gab ich zurück. "Auch gut. Kannst du schonmal ein paar der Decken mitnehmen?", wollte er wissen. Einige Sekunden später nahm ich das Geräusch eines Stuhls war, der über den Boden zurückgeschoben wurde. Einige Schritte danach hatte er mich erreicht und drückte mir zwei Sporttaschen mit ordentlich zusammengefalteten Weidedecken in die Hand. "Schick meinen Sohn nachher noch hierher, ich habe noch zwei weitere Taschen, die ihr mitnehmen müsst.", befahl er mir und ich nickte. "Alles klar." Damit verließ ich die Sattelkammer, um zu meinem ungeduldigen Pferd zurückzukehren. Dieser hatte die Gelegenheit inzwischen genutzt, um ein paar der gefrorenen Grashalme abzunagen, die am Rand des Hofes wuchsen.

Mit einem leisen Pfiff rief ich ihn zu mir und schwang mich dann, mitsamt den zwei Taschen auf seinen Rücken. Im zügigen Schritt ritt ich so eine Weile über das Gelände und wartete auf Marco, der etwas länger brauchte als ich. Sobald er jedoch rauskam, machte ich ihn auf die Decken aufmerksam, die sein Vater noch hatte und einige Minuten konnten wir auch schon den Hof verlassen. Unterwegs kamen wir nicht wirklich dazu, miteinander zu reden, da er seine gesamte Konzentration auf Diabolo richten musste, welcher die Kälte als Grund nutzte, um sich über jede Sache aufzuregen. Ich selbst war damit beschäftigt, nicht die Nerven zu verlieren. Jovito maulte mir die gesamte Strecke über die Ohren voll, wie kalt es doch wäre. Merkwürdig nur, dass sich Diabolo nicht beklagte und sich hin und wieder über die Kälteempfindlichkeit meines Falben nur lustig machte. Dabei trug der Apfelschimmel keinen zusätzlich wärmenden Fleece.

Sehr zu meinem Glück, dauerte der Ritt nicht allzu lange und mit einer kurzen Galoppeinlage waren wir nach gut einer Viertelstunde da. Die zwei Weiden lagen direkt nebeneinander und waren wirklich riesig. Ich musste meine Augen ganz schön anstrengen, um die eine Herde auszumachen. Die andere stand jedoch ziemlich weit vorne. Wahrscheinlich hatten die Älteren Schutz in dem Wald gesucht, der bis in ihre Weide hineinwuchs. Um uns keinen großen Aufwand zu machen, fingen wir direkt mit dem Eindecken der Junggebliebenen an. Nicht alle brauchten den zusätzlichen Schutz, doch denen, den wir etwas gaben, waren sehr dankbar. Anschließend nutzten wir die Schnelligkeit unserer Pferde, um zu den Senioren im Wald zu gelangen. Hier sollte auch irgendwo Felicitas stehen. Suchend überblickte ich die Herde, konnte sie auf den ersten Blick jedoch nicht ausmachen. Im Galopp jagten wir also die kleine Anhöhe hinunter, direkt auf die anderen Tiere zu. Damit sie jedoch nicht erschrocken davonstoben, parierten wir etwa 20 Meter vor ihnen wieder durch. Und jetzt entdeckte ich auch Felicitas, die am anderen Ende der Gruppe stand. Bevor ich mich allerdings um sie kümmerte, deckten wir erst wieder ein paar der Tiere ein, um sie für die Minusgrade zu wappnen.

"Felicitas?", rief ich sie, nachdem wir unsere Arbeit beendet hatten. Der Kopf der dunkelbraunen Stute flog nach oben, sie sah sich überrascht um und entdeckte dann mich. "Hanna.", murmelte sie trocken. "Hat man denn nirgendwo Ruhe vor dir?", knurrte sie und kam in meine Richtung. "Hallo, Hübsche.", begrüßte ich sie lächelnd und bot ihr eine Karotte an, die sie aber nicht annahm. Stattdessen nickte sie zu dem Falben. "Hast du ein neues Opfer, oder was?", kommentierte sie Vitos Anwesenheit bitter. Trotz ihrem Groll, die sie wohl gegen mich hegte, blieb sie auf Sicherheitsabstand und starrte uns an. "Wir sind nicht allein, Felicitas. Also pass auf, was du sagst.", erinnerte ich sie leise an die Anwesenheit des jungen Luraschi. "Na, und? Das kann mir doch egal sein. Er versteht mich ja sowieso nicht!", giftete sie in Marcos Richtung. Dieser sah nur kurz auf und schloss dann den Verschluss der letzten Decke, die er auf dem Rücken eines alten Hengstes gelegt hatte. "Schön dich mal wiederzusehen.", schmunzelte ich nur. "Ich habe dich vermisst." "Ach ja? Das glaubst du ja selbst nicht...", murrte sie. "Doch... schon irgendwie. Du warst wenigstens etwas anstrengend. Das ist Vito leider nicht, obwohl das auch seine guten Seiten hat.", erklärte ich. "Ich kann auch anders.", nuschelte dieser mit dem Mund voller Heu. Ich stemmte empört die Hände in die Hüfte. "Kannst du mal aufhören, den Alten das Heu wegzufressen!", schimpfte ich. "Die brauchen doch gar nicht so viel.", rechtfertigte er sich. "Das macht man trotzdem nicht!", meinte ich verärgert. Man konnte manchmal wirklich meinen, der Hengst hätte keine Manieren. Ob das jetzt an mir lag, oder an ihm, das wusste ich leider nicht.

Jedenfalls wandte sich meine Aufmerksamkeit nun wieder der Stute zu, die Marco abschätzig musterte. "Wusstest du eigentlich, dass er nicht reiten kann?", meinte sie zu mir. "Aber sonst geht's dir gut?", konterte ich, während ich versuchte, mir den Ärger nicht anmerken zu lassen. Langsam wurden mir ihre Provokationen zu viel.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now