33. Die Tür zur Fantasie

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Draußen auf dem Hof fand das ‚Gemetzel' schon statt. Eine Handvoll Reiter saßen kampfbereit auf ihren Pferden und hatten lange Lanzen in der Hand, mit der sie aufeinander zu galoppierten. Mit lautem Krachen brachen die Stäbe auf den Schilden auseinander und zersplitterten in viele Teile. Fasziniert sah ich zu. Und das machten sie so furchtlos! Wie sollte ich das nur hinbekommen?

Ich setzte mich neben Lucio auf den Zaun und starrte auf das Spektakel. Als ein Splitter einer Lanzenspitze auf mich zu flog, hob ich das Stück interessiert auf. Das Stück Holz fühlte sich überraschend leicht an. „Aus was besteht das denn?", wollte ich von meinem Sitznachbarn wissen. Es fühlte sich irgendwie an, wie eine Mischung aus Holz und Styropor. Es war unheimlich leicht und schien leicht zu zerbrechen. „Das ist Balsaholz. Zersplittert leicht aber dennoch in tausend Stücke. Aber wir kaufen nicht jedes Mal eine ganze Lanze davon, das wäre zu teuer. Vielleicht erkennst du a den Übergang? Das Grundgerüst muss stark sein, damit die Lanze nicht so leicht aus der Hand fällt und nur die Spitze bricht. Denn sonst wäre es auch für das Pferd gefährlich. Deswegen ist ein dreiviertel der Lanze aus härterem Holz, welches immer wieder benutzt wird. Das Viertel mit dem Balsaholz wird für jeden Kampf neu gemacht, wenn es zerbrochen ist.", erklärte Marcos Bruder und sah weiterhin zu.

„Warum kämpfst du eigentlich nicht mit?", bohrte ich weiter und sah zu, wie eine rothaarige Frau, deren Name ich nicht kannte, in die Richtung eines jungen Manns, mit weichen Gesichtszügen und kurzen, schulterlangen Haaren galoppierte. Die Pferde zogen automatisch an, als sie immer näher in die Mitte der Abgrenzung kamen. „Das ist nichts für mich. Ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie habe ich dafür zwei linke Füße. Ich dressiere gerne ein Pferd vom Boden aus, aber mich darauf zu setzen ist eine andere Geschichte...", er seufzte.

„Sehr gut, Charles. Lena, du musst zielsicherer werden, das sieht noch sehr gezwungen aus.", tönte Marios Stimme über den Platz. Hmm, Charles. Er kam mir irgendwie bekannt vor und schien noch sehr jung zu sein. Und irgendwie mochte ich seine braunen Haare, sie sahen so weich und flauschig von hier aus, obwohl sie glatt über seinen Schultern hingen. Ich musste ihn nach seinem Shampoo fragen, meine Haare sollten auch so aussehen.

„Und deswegen übernimmst du die Büroarbeiten?", sagte ich, ohne meine Schwärmereien für Charles' Haare im Kopf zu unterbrechen. Ich wollte auch so eine Haarpracht! Die war göttlich. Ich hatte das Gefühl, wenn er in die Arena kommen würde, würde die weibliche Fangruppe wachsen.

„Ja und Marcos Talent liegt ja im Reiten, also gleicht sich das wunderbar aus.", fuhr der Gelockte fort und zog sein Handy aus der Tasche. Er warf einen kurzen Blick darauf und schwang sich dann vom Zaun, um zu gehen. „Ich muss wieder rein, die Pflicht ruft.", verabschiedete er sich und verschwand. Ich wusste nicht so wirklich, ob ich das Gut oder Schlecht finden sollte. Innerlich hatte ich nämlich schon eine Predigt für ihn vorbereitet, ob es ja nicht sein könnte, dass Marco das ganz und gar nicht wunderbar fand. Und nach fünf Minuten mich einfach sitzen zu lassen, war auch nicht freundlich. Kurz schaute ich ihm entgeistert hinterher, dann wandte ich mich wieder dem Geschehen zu.

Alle Beteiligten trugen übrigens Helme, wie mir auffiel. Wahrscheinlich, um sich vor den Lanzensplittern zu schützen. Tjosten schien keine ungefährliche Angelegenheit zu sein und ich wusste, dass man dem Pferd dabei unheimlich viel zumutete. Immerhin war es für den Vierbeiner auch nicht gerade einfach, zu einem Ritter zu galoppieren, der mit der Lanze auf es zielte.

Allerdings blieb ich nicht lange allein, denn Fred hatte es inzwischen aus dem Stall geschafft und ritt sein Pferd im lockeren Schritt über den Hof, um es warmzumachen. Nach einigen Minuten hielt er seinen dunklen Hengst neben mir an und angelte sich einen Helm, der auf einem Zaunpfahl steckte. Jedoch klemmte er ihn sich nur unter den Arm, um noch ein wenig mit uneingeschränkter Sicht zusehen zu können.

„Und?", wandte er sich an mich, „Ist es spannend?", wollte er wissen. „Geht so.", erwiderte ich und sah zu, wie sich zwei andere Reiter kampfbereit aufstellten. „Tjosten ist eine Königsdisziplin, denn im Gegensatz zum Schwertkampf, ist das nicht durchgeplant. Es kommt einfach, wie es kommt und wenn dein Pferd spinnt, dann hast du Pech gehabt.", erklärte er und ich wandte mich ihm zu. „Und dir macht das Spaß?" Er nickte. „Natürlich. Es verschafft dir einen Adrenalinkick, lässt dich das Mittelalter direkt fühlen. Ich mag das."

Er erzählte noch etwas weiter, doch meine Aufmerksamkeit verabschiedete sich. Denn ich hatte Marco entdeckt, der auf Diabolo saß und ihn am langen Zügel warmritt. Sofort kreisten meine Gedanken nur noch um diesen Jungen, fasziniert sah ich ihm zu, verfolgte jede seiner Bewegungen. Er zog mich automatisch in seinen Bann. Als er mich entdeckte, hob er kurz den Blick und lächelte mich an, bevor er sich wieder auf sein Pferd konzentrierte. Mein Herz wurde warm und automatisch hoben sich meine Mundwinkel.

„Können Träume eigentlich wahr werden?", fragte ich, noch ganz weggetreten in der Welt, die nur aus uns zwei bestand. Der Komponist neben mir dachte nach. Er machte zwar „Hmmm", als Zeichen, dass er es verstanden hatte, doch er ließ sich Zeit mit dem Antworten. „Es kommt drauf an.", murmelte er irgendwann. „Wenn du zum Beispiel von einem guten Schulabschluss träumst und ganz hart dafür lernst und dich anstrengst, dann können Träume wahr werden. Doch wenn es ein Traum ist, der dich woanders hinbringt, der dich fantasieren lässt und dich durch andere Welten schweben lässt, dann bleibt es ein Traum.", er machte eine kurze Pause. „Und wieso fragst d-?", er brach ab, als er Marco am anderen Ende des Platzes entdeckte. „Achso.", er grinste schief. „Alles klar."

„Weißt du, wie es ist, in anderen Welten zu schweben?", fragte ich weiter. Leise und nachdenklich kamen die Worte über meine Lippen. Ich liebte es, ihm zuzuhören. Und Marco hatte gerade sowieso wenig Zeit für mich. Beide Männer zogen mich gerade in den Bann. Mit den Augen war ich bei meinem Lieblingsluraschi. Mit dem Geist war ich völlig bei Fred, der es mit seiner Aussage schon wieder geschafft hatte, mich zum Nachdenken zu bringen.

Als er wieder nicht sofort antwortete, sondern still blieb, drehte ich mich vorsichtig um und sah ihn zum ersten Mal, seit er wieder neben mir aufgetaucht war, richtig an. Er hatte seine Hände auf dem Sattelknauf überkreuzt, den Helm hatte er mittlerweile auf. Seine stahlblauen Augen starrten nachdenklich in die Ferne. Er sah aus wie eine Statue. Eindrucksvoll, nachdenklich, ein Bild für die Ewigkeit.

Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, als er langsam antwortete. Die Wörter aus seinem Mund kamen langsam, bedacht. „Nein.", sagte er gedehnt. „Ich war stets in der Realität geblieben, habe manchmal vielleicht an die Tür der Fantasie angeklopft, doch ich habe die Grenze nie überschritten. Ich durfte manchmal sogar einen Schritt hineingehen, in eine andere Welt. Doch ich weiß nicht, was passiert, wenn ich ganz eintrete. Wird sich die Tür zur Wirklichkeit dann ganz hinter mir schließen? Lieber bin ich Realist, setzte mich mit dem Jetzt und Hier auseinander, als mich zu sehr der Fantasie hinzugeben und mein Leben vor mich hin zu träumen. Dabei stehe ich gar nicht so selten vor dieser Tür... Nur war ich noch nie richtig dort und das sind Dinge, die ich bereue. Vielleicht hätte ich es als Jugendlicher mal ausprobieren sollen, da war mein Geist noch rebellisch genug, um die Fantasie vollständig zu verlassen, bevor die Tür sich geschlossen hat." Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus Nase und Mund aus. Sein Atem hinterließ weiße Wölkchen.

„Du denkst also, dein Geist sei nicht stark genug, um dorthin zu gehen?", fragte ich weiter, unbefriedigt in meinem Durst nach Wissen und seiner Weitsicht.

„Manchmal glaube ich das und dann setzte ich einen Schritt in diese andere Welt. Doch dann merke ich, wie schwer es mir fällt, wieder zurückzukehren und ich drehe wieder um... Am liebsten wü-" „Fred!", Marios Stimme schallte über den Platz. Wir zuckten beide zusammen. „Ich brauche hier den schwarzen Ritter.", fuhr der Meister verschmitzt fort und der Komponist trieb sein Pferd an, um seinen Platz einzunehmen.

Innerlich war ich gerade dabei, Mario den Hals umzudrehen. Ich liebte es, wenn Fred wieder über irgendetwas philosophierte und dann unterbrach er uns einfach ungefragt. Unwillig brummelte ich vor mich hin und stieg dann vom Zaun, um endlich Charles nach seinem Shampoo zu fragen.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now