50. Leid

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Am Abend vor meiner Abreise traf ich mich wieder mit Marco. Als ich hereinkam, saß er auf seinem Bett, hatte die Knie angezogen und seinen Kopf darauf gebettet. „Alles ok?", fragte ich überflüssigerweise und ließ mich neben ihn fallen. Er sah geknickt aus. „Was wird das mit uns? Ich werde dich vermutlich jetzt lange nicht mehr sehen können... Fernbeziehung? Brieffreundschaft? Skype? Oder sollen wir es einfach lassen und als Ferienflirt bezeichnen?", kam er direkt auf den Punkt. Ich lehnte mich an ihn. „Weiß nicht.", gestand ich ehrlich. Er drehte den Kopf, griff mit einer Hand an mein Gesicht und küsste mich mit solcher Wehmut, dass es mir fast im Herzen wehtat. Langsam erwiderte ich, versuchte ihm klar zu machen, wie sehr ich ihn liebte, doch dazu kam es nicht. Erst war es nur ein unangenehmer, ziehender Schmerz in der Magengegend. Doch dann breitete es sich rasend schnell aus, biss ich dachte, jemand hätte mir ein Messer in den Bauch gerammt. Erschrocken sprang ich von Marco zurück, hielt mir den Bauch und sah hinunter. Doch nichts wies auf irgendwelche Verletzungen hin. Stattdessen beruhigte sich der Schmerz ein wenig, sobald ich abgerückt war und mich nicht mehr auf meinen Freund konzentrierte.

„Was zur Hölle war das?", fragte ich leise und starrte verzweifelt an mir hinunter. Obwohl ich mir denken konnte, was es war. „Was ist los?", wollte der junge Luraschi fürsorglich wissen, doch ich biss mir auf die Unterlippe und wandte ihm den Rücken zu. Das... das konnte nicht wahr sein.

„Hanna!", rief er meinen Namen leise. „Nichts.", ich schluckte. Selbst seine Stimme rief ein unwohles Ziehen in meinem Bauch hervor.  Ich zwang mich, mich wieder zu ihm umzudrehen. Obwohl sich alles in meinem Körper dagegen strebte. Er wollte die Schmerzen nicht wieder erfahren, doch mein Kopf liebte den Jungen immer noch. Und innerhalb einer Sekunde realisierte ich, warum es so schlimm war. Warum Nathalie sich umgebracht hatte. Warum sie nicht damit leben konnte. Wenn der Kopf jemanden immer noch liebt, aber der Körper nicht mehr kann. Es war qualvoll.

Ich spürte seine Hand an meiner Schulter, er wusste noch immer nicht, was los war. Ein Muskel in mir zuckte, wollte sie wegschlagen, da sie wieder Schmerzen in meinem Körper hervorrief. Es war, als wäre meine Bauchgegend die Wurzel des Übels und je länger ich ihn spürte, desto schneller wuchsen ihre Zweige und breiteten sich wie Gift in meinem Körper aus. „Warum?", wisperte er, „Warum weichst du mir aus?" Er stoppte kurz, zog seine Hand zurück. „Was habe ich auf einmal falsch gemacht?" „Du hast nichts falsch gemacht.", brachte ich mit Mühe hervor. Meine Stimme klang merkwürdig trocken, beinahe brüchig. „Was ist es dann?" Mein Kopf wollte mehr davon. Mehr von diesem wohltuenden Klang, doch der Rest von mir wehrte sich dagegen. Wollte ihn von sich stoßen. Aufspringen, davonrennen und ihn nie wieder ansehen.

„Hast du vergangene Nacht gesehen, was ich bin?", begann ich schließlich. Jedes Wort, welches ich mit ihm wechselte, widerstrebte dem Gift in mir. Es schlug zu wie eine unbarmherzige Schlange. „Du bist ein Pferd. An Vollmond. Doch das hat doch nichts damit zu tun. Solange du die meiste Zeit mein Mädchen bleibst, stört mich das nicht." So gerne wollte ich ihn wieder ansehen können, doch ich traute mich nicht, mich umzudrehen. Er hatte noch nicht begriffen, was ich meinte. „Das ist es nicht...", fuhr ich fort. Ich wollte es ihm nicht sagen. Ich ahnte, wie sehr es ihn verletzten würde. „Was dann?", bohrte er dennoch nach.

Erneut schluckte ich einen Kloß in meinem Hals herunter. „Ich...", begann ich, doch musste wieder abbrechen. Wie sehr würde ich ihn damit zusetzen? „Ich kann nicht lieben.", brachte ich schließlich hervor und beinahe entwich mir ein Seufzen der Erleichterung. Es war raus.

Unruhig wartete ich auf seine Reaktion. Doch es blieb still. Und diese ungewisse Stille war viel schlimmer als irgendetwas anderes, was ich erwarten hatte können. Es dauerte lange, bis er wieder sprach. Seine Anwesenheit, die in diesem Moment kaum präsent war, fuhr den Schmerz in mir wieder etwas zurück, verschwand auf ein kaum wahrnehmbares Minimum. Und doch war er noch da. Weil ich ihn immer noch liebte. Und es eigentlich nicht durfte.

„Es war nur eine Lüge, nicht wahr? Die gesamte Zeit hast du mich angelogen und mir Gefühle vorgespielt. Oder?" Falsch. Das war ja gerade das Problem. Ich schloss gequält die Augen und rang mich endlich dazu durch, mich umzudrehen. Und sofort wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Sein Ausdruck war verletzt. Er sah traurig aus. So unendlich traurig. „Nein.", murmelte ich. „Ich habe dich geliebt und tu es immer noch. Aber ich darf nicht. Höhere Mächte verbieten es mir...", sagte ich endlich die Wahrheit, ohne es noch länger hinauszuzögern. Erleichterung huschte über das Antlitz meines Gegenübers. Er glaubte mir.

Entgegen den Protesten meines Körpers lehnte ich mich nach vorne und verschloss seine Lippen mit meinen. Sofort fühlte ich den Schmerz wieder. Das Messer, welches immer noch an Ort und Stelle war, drehte sich in mir herum. Automatisch krümmte sich mein Körper zusammen, ich wollte zurückweichen, doch ich widerstand dem Drang. Stattdessen versuchte ich ihm meine Liebe zu beweisen, auch wenn die ersten Tränen des Schmerzes mir aus den Augen traten. Als Marco die salzige Flüssigkeit schmeckte, war er es, der es unterbrach. Verwirrt fing er eine Träne auf und beobachtete, wie sie den Weg über seinen Finger fortsetzte. „Ich darf das Gleichgewicht der Natur nicht durcheinander bringen. Deswegen bestrafen sie jeden Versuch der Liebe mit Schmerzen.", meinte ich mit erstickter Stimme. „Ich verstehe es nicht..." Nachdenklich sah er auf die Decke. „Wie kann man ein Gefühl bestrafen?" „Wie kann man ein Pferd sein?", gab ich zurück und zog die Knie an. Er nickte und fing an, undefinierbare Muster auf den Stoff zu zeichnen.

Sein Gehirn schien regelrecht zu rattern, er versuchte sich das irgendwie zu erklären, doch er fand keine Erklärung. „Es tut mir leid.", entschuldigte ich mich irgendwann, als die Stille unangenehm wurde. „Und was jetzt? Ist es aus?", antwortete er, ohne auf meine Entschuldigung einzugehen. Nein. Das wollte ich nicht. Solange sie keine Kontrolle über meinen Kopf hatten, liebte ich ihn noch. Warum konnten sie nicht einfach beides ausschalten? Doch mich mit beiden Gefühlen zu lassen, war grausam. Einerseits war da der Schmerz, andererseits war da mein Kopf, der sich weigerte, zu realisieren, dass der junge Mann vor mir nicht gut für meinen Körper war.

Vielleicht gewöhnte ich mich ja an den Schmerz?

Zaghaft legte ich meine Arme um seinen Hals, zog ihn in eine Umarmung. Gequält schnappte ich nach Luft, sobald ich ihn am ganzen Körper spürte. Hier war meine Schmerzensgrenze erreicht. Ich vergrub mein Gesicht an seinem Hals, suchte Trost, doch es machte alles nur noch schlimmer. Der Pein des Messers ließ nicht nach. Immer und immer wieder stach es unsichtbar zu, versuchte mir den kleinsten Rest Leben irgendwie zu nehmen, doch natürlich schaffte es das nicht. Auch wenn meine Nerven blank lagen, so war ich physisch komplett unversehrt. „Ich kann nicht.", klagte ich, schrie beinahe vor Schmerzen auf, als seine Hand beruhigend über meinen Rücken streichen wollte. Es war unerträglich.

Schließlich konnte ich nicht anders, ich wandte mich aus seinen Armen und ließ mich nach hinten fallen. Vergrub mein Gesicht in meinen Händen und rollte mich zusammen, um den Bauchschmerzen etwas Linderung zu verschaffen. Da ich aber körperlich unversehrt war, half das nicht. Verzweifelt umklammerte ich meine Knie und versuchte, möglichst wenig Laute von mir zu geben. Ich wollte Marco nicht noch mehr beunruhigen. Doch solange er noch in meiner Gegenwart war, wurde mein Leiden nicht weniger. Dass Nathalie sich umbringen wollte, war keinesfalls übertrieben gewesen, so wie ich anfangs kurz gedacht hatte. Es klang so greifbar.

„Kann ich dir irgendwie helfen?" Die Stimme meines Freundes klang mindestens genauso verzweifelt, wie ich mich fühlte. Stumm schüttelte ich den Kopf und versuchte aufzustehen. Je weniger ich an Marco dachte und ihn spürte, desto erträglicher wurde es wieder. Ich stand nun und ging langsam zurück zur Tür. „Vergiss nicht, dass ich dich immer noch liebe.", murmelte ich, „Da ist immer noch das Gefühl von so unglaublich viel Liebe für dich. Doch dann sind da auch die Schmerzen..." Aus den Augenwinkeln sah ich ihn vorsichtig nicken. „Egal wie, da wird ebenfalls immer meine Zuneigung zu dir sein. Oh Gott, du hast ja keine Ahnung, was allein dein Anblick in mir auslöst... Was hast du bloß mit mir gemacht?"  Bei seinen Worten musste ich unwillkürlich lächeln, zusammen mit einem Hauch der Gefühle, die ich immer für ihn empfand kam eine weitere Welle des Schmerzes auf mich zugerollt. Ich schloss seufzend die Augen, wartete ab, bis er wieder etwas abgeklungen war. Es war ungerecht. Einfach nicht fair. Warum durfte ich nicht? Warum?

Tränen traten mir wieder in die Augen, ich versuchte gar nicht erst sie zurückzuhalten. „Es tut mir so leid.", wiederholte ich meine Worte von vorhin. Marco seufzte voller Kummer. „Wer auch immer meint, dich mir wegnehmen zu müssen, dich gewaltsam davon reißen zu müssen, der...", er ließ den Satz in der Luft hängen. Kurz bevor ich mich das Zimmer verließ, drehte ich mich wieder zu ihm um. Meine verweinten Augen suchten seinen Blick für einen Moment.

„Wir werden einen Weg finden. Irgendwie.", versprach ich und schloss leise die Tür hinter mir.

Moondancer - Maître des ChevauxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt