28. Perfekt

1.4K 135 14
                                    

"Wo warst du denn so lange?", begrüßte mich Marco neugierig, als ich wieder neben ihn trat. "Draußen. Etwas frische Luft schnappen.", erklärte ich und ließ dabei die Geschichte mit Sylvain bewusst außen vor. "Achso. Sollen wir noch ein bisschen tanzen, bevor es Mitternacht wird?", wollte er wissen und deutete auf die Tanzfläche. Auf einer großen Uhr, die an der Wand hing, konnte ich ablesen, dass es noch etwa eine halbe Stunde bis Mitternacht war. Wie die Zeit raste...

Obwohl meine Füße schon etwas schmerzten, ließ ich mich zu einer weiteren Runde auf dem Parkett überreden. Der DJ betitelte seine Auswahl an immer schneller werdenden Liedern mit: "Lasst uns vor Mitternacht noch einmal so richtig einheizen!" Und, um der französischen Musikquote gerecht zu werden, legte er noch etwas David Guetta auf. Einen schnellen Remix von einem Lied, dass wohl ganz neu war, denn ich hörte es zum ersten Mal. Aber ich musste sagen, es gefiel mir außerordentlich gut. Und vor allem meinte der Musiker noch, den Bass hochzudrehen. Als ob er nicht schon laut genug eingestellt war...

Jetzt brachte dieser erst Recht meine Knochen regelrecht zum vibrieren. Ich war versucht, mich noch einmal diesem Trip hinzugeben, den mir Sylvain gezeigt hatte. Doch dann entschied ich mich dagegen. Was würde Marco wohl zu meinen blau leuchtenden Augen sagen?

Noch eine Minute bis Mitternacht, mittlerweile stand schon die Hälfte aller Anwesenden draußen und zählte mit dem DJ den Countdown hinunter. Marco stand hinter mir, hatte sein Kinn auf meine Schulter gebettet und beide Arme um mich geschlungen. Er spürte, dass mir kalt war und versuchte mich so etwas zu wärmen. Mir war das auch ganz und gar nicht unangenehm, also ließ ich das unkommentiert und zählte in Gedanken mit.

'Zehn, Neun, Acht, Sieben, Sechs' "Fünf, Vier, Drei, Zwei, Eins.", flüsterte Marco in mein Ohr, was mir einen angenehmen Schauer den Rücken hinunter jagte. Statt der Null küsste er mich sanft von hinten auf die Wange und murmelte. "Gesundes neues Jahr, Hanna." Die Welt um mich herum ging in dem lauten Krachen der Feuerwerkskörper unter. In Paris wurde es taghell. Verschiedene Farben erleuchteten den Nachthimmel und ich war gefesselt von dessen Schönheit. Jeder jubelte, jeder beglückwünschte sich und ich stand nur an Marco gelehnt da und dachte daran, dass mein Jahr nicht schöner beginnen konnte. In den Armen des nettesten und schönsten Jungen, den ich bis dato kennengelernt hatte und in Paris, der Hauptstadt von Frankreich.

"Alles Gute im neuen Jahr.", beglückwünschte ich auch Marco und drehte mich in seinen Armen um, sodass ich ihn ansehen konnte. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter entfernt und seine hellblauen Augen blickten mich mit so viel Liebe an, dass ich beinahe dahinschmolz. "Dankeschön.", sagte er und sein Atem fuhr angenehm über meine Wange. Und dann tat er etwas, womit ich eigentlich schon gerechnet hatte, aber dennoch freute ich mich, dass er es von sich aus tat.

Er schloss den Abstand zwischen uns und legte sanft seine Lippen auf meine, um mich zu küssen. Ich schloss die Augen und genoss es einfach nur. Es war so viel anders als bei Sylvain. Bei ihm wollte ich nicht, dass es aufhörte. Ich wollte mehr davon, ich wollte mehr von dem angenehmen Geschmack und dem schönen Gefühl, das er in mir auslöste.

Um mich herum das Feuerwerk des Jahreswechsels. In mir drin das Feuerwerk der Gefühle. Es konnte nicht schöner sein.

Marco löste sich wieder sanft von mir und strich mir liebevoll über die Wange. "Ich will, dass du etwas weißt, Hanna...", begann er und sah mir intensiv in die Augen. Gab es etwas Schöneres und Vollkommenes als das? Ein Jahreswechsel war wie ein Neuanfang, man ließ etwas hinter sich und begrüßte etwas Neues. Und wer mir jemals weißmachen wollte, dass ich nicht lieben konnte, der hatte Unrecht. Ich schob all diese Vorurteile von mir, diese negativen Sachen und ließ mich ganz darauf ein.

"Ich liebe dich.", sprach er endlich die ersehnten Worte aus. Ich zögerte nicht lange, denn das war etwas, dem ich mir mittlerweile sicher war. Und ob es nur diese Umarmung war, in der wir immer noch standen und aus der ich nie wieder hervorgehen wollte. Wenn man mit jemanden die Zeit anhalten wollte und für immer in einem Augenblick verweilen wollte, dann konnte man sich sicher sein.

"Ich dich auch.", erwiderte ich und vergrub mein Gesicht an seiner Schulter. Er war so angenehm warm und ich wollte ihn echt nicht mehr loslassen. Bei meinen Worten entspannte sich Marcos Körper und er atmete langsam aus. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie er gespannt auf meine Reaktion gewartet hatte.

Wir blieben lange so stehen, hörten dem Feuerwerk zu und genossen unsere stille, kleine Welt, die im Moment perfekt war. Doch irgendwann wurde uns kalt und wir gingen wieder hinein. Mittlerweile, da so manch einer allmählich müde wurde, spielte der DJ noch einige langsame Balladen. Ich genoss das, ich saß mit Marco am Rand der Tanzfläche und trank wieder einen Cocktail. Hugo schmeckte überraschend gut. Hin und wieder forderten wir uns gegenseitig noch zum Tanzen auf, aber da wir die erste Hälfte der Nacht schon so viel getanzt hatte, wurde ich langsam, aber sicher müde und ich verbrachte meine Zeit noch damit, allen möglichen Leuten ein Gutes Neues zu wünschen. Jeder lud auch noch jeden Mal zu einem Drink ein und genoss die Atmosphäre.

Sylvain ließ sich zum Glück nicht mehr blicken, seine Anwesenheit hätte mir sowieso alles kaputt gemacht. Ich war gerade glücklich wie es war und so sollte es auch bleiben.

~

Am nächsten Morgen wachte ich durch lautes Klopfen an meiner Tür auf. Jeder Ton war wie ein Schlag in mein Gesicht. Eine riesige Welle an Schmerzen machte sich auf einmal in meinem Kopf breit und ich stöhnte schmerzerfüllt auf. Das Klopfen fühlte sich an, als würde jemand meine Tür vergewaltigen, dabei wusste ich genau, es war eine sanfte Berührung zwischen Fingerknöcheln und Holz. Hatte ich gestern so viel getrunken? Ich dachte scharf nach und, das Schlimme war, ich wusste es nicht mehr.

Ich nahm mir mein Kopfkissen unter meinem Kopf hervor und presste mein Gesicht hinein, um den Schall etwas zu dämpfen. "Hanna!", rief schließlich jemand, "Du solltest aufstehen!" Marco. Seine Stimme ließ es um mein Herz ganz warm werden. Diese Erinnerung an den vergangenen Abend hatte ich noch...

"Hmmm?", grummelte ich schließlich durch den Stoff vor meinem Gesicht schließlich und erlaubte ihm somit einzutreten. Die Tür schwang auf und kurz darauf spürte ich einen kalten Luftzug an meinen Armen.

"Es ist gleich 13 Uhr. Mein Vater erwartet dich in einer halben Stunde im Pavillon." Das Bett senkte sich etwas, als er sich daraufsetzte. "WAS?", entfuhr es mir, "Schon so spät?!" Innerhalb zwei Sekunden hatte ich das Kissen von mir geschmissen und saß senkrecht im Bett. Das entpuppte sich jedoch als nicht Richtig für meine Kopfschmerzen. "Aua.", jammerte ich und massierte meine Schläfen, die wieder fies zu pochen angefangen zu hatten. Marco hielt ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit in der Hand, die er nun geräuschvoll auf meinem Nachtisch abstellte. "Ich dachte, du könntest etwas Aspirin gut gebrauchen.", er nickte zu dem Trinken. "Wie kannst du eigentlich schon so wach sein?", beschwerte ich mich und sah ihn anklagend an. "Im Gegensatz zu dir bin ich auch schon seit zwei Stunden wach, habe zwei Schmerztabletten und mindestens einen Liter Kaffe intus. Gegenfrage: Wie kannst du so einen Kater haben, nachdem du nicht einmal halb so viel getrunken hast wie ich?" Ich seufzte. "Das wüsste ich auch gerne..."

"Naja, wie auch immer. Du solltest dich dringend aus dem Bett bewegen.", er war einen Blick auf meinen Wecker. "Du hast noch genau 24 Minuten." Er grinste mich gut gelaunt an und zog mir die Decke weg, sodass die plötzlich fehlende Wärme für einen eiskalten Schock meinerseits sorgte. "Hey!", quietschte ich erschrocken auf. "Ich hätte nackt sein können!" Marco war gerade dabei, das Zimmer zu verlassen, als er sich noch einmal umdrehte und mir zuzwinkerte. "Dann wäre heute mein Glückstag gewesen!"

Hatte er aber Glück, dass ich mein Kissen schon vorher weggeschmissen hatte, denn sonst hätte er jetzt eines abbekommen. Stattdessen scheuchte ich meinen Weckdienst mit einer Handbewegung aus dem Zimmer, um mich endlich fertig machen zu können.

Eine viertel Stunde später stand ich dann auch schon fertig in der Küche und suchte noch einmal eine Schmerztablette für meine Katerschmerzen. Nachdem ich dreimal daran vorbeigerannt war, sah ich den Zettel auf dem Tisch mit der Packung Aspirin liegen. "Nimm dir so viele, wie du willst ;) Gruß M", stand darauf. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, doch ich schlug das Angebot nicht ab, sondern nahm mir eine. Danach war ich fertig und da meine Zeit knapp wurde, entschied ich mich dafür, das Frühstück wegzulassen und verließ das Haus, um meiner Pflicht nachzugehen.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now