11. La vie rêvée de Walter Mitty

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So ritten wir im Gänsemarsch zurück. Marco war die ganze Sache etwas peinlich, weshalb er wieder das Schlusslicht bildete und mich von dort heimlich beobachtete, wie Marion mir mitteilte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mich ab jetzt über jede Handlung von meinem Trainingspartner zu informieren, sobald sie etwas mit mir zu tun hatte.

Ansonsten unterhielt sie sich mehr mit Chris, der sich unserer Reihe ebenfalls angeschlossen hatte. Ich hatte meinen Kopf von sämtlichen Gedanken befreit und war nur noch froh, dass es in Richtung Bett ging. Die Müdigkeit war nun ein fester Untermieter meines aktuellen Bewusstseins geworden und zahlte nicht einmal Miete. Dazu meinten meine Muskeln, sie müssten gegen jede Bewegung protestieren. Und wenn es nur die ruhigen Schritte meines Hengstes waren, die über den federnden Waldboden trotteten. Wenn man dem Falltraining so zusah, ahnte man gar nicht, wie anstrengend es war. Ich versuchte meine Schmerzen mit leisem Fluchen etwas erträglicher zu machen. Laut einer Studie gelang das so ja besser. Auf Deutsch schimpfte ich also so vor mich hin, bis wir im Stall ankamen. Vito fand diese Methode unheimlich lustig und hin und wieder lachte er deshalb laut los, was Menschen zwar nicht hörten, aber die Vibration, die von seinem Bauch ausging, spürte ich dennoch deutlich. Das führte also zu noch mehr Schmerzen und noch mehr Fluchen meinerseits, was Vito noch mehr zum Lachen brachte. Ein Teufelskreis.

Mein deutsches Schimpfen verstand zum Glück jedoch keiner, denn was ich für ein Repetoir an schlechten Wörtern hatte, überraschte mich selbst.

Bevor ich mich von Vito abschwang, beschimpfte ich meine Muskeln noch mit dem, vergleichsweise harmlosen, "geht sterben" und führte den Falben in seine Box. Nachdem ich ihn versorgt hatte, hatte die Dunkelheit auch schon wieder eingesetzt und ich begab mich ins Haus. Mein erster Weg führte in die Dusche und unter dem heißen Wasserstrahl versuchte ich, meine Muskeln wieder zu lockern, um mich wenigstens wieder normal bewegen zu können. Nach dem Abendessen, das sehr gesund aus Pizza bestand, traf sich die Familie im Wohnzimmer wieder.

Der Fernseh lief im Hintergrund, dudelte irgendetwas vor sich hin. Mario hatte sein Tablet wieder in der Hand und sah sich Pferde auf irgendwelchen Internetseiten an. Lucio saß am Schreibtisch, auf dem ein mordern aussehender Computer stand und war ebenfalls irgendwo im Internet unterwegs. Marco lag auf der Couch und blätterte in irgendeinem Fantasy Roman, der verdächtig nach Eragon aussah. Ich zu meinem Teil überlegte kurz, ob ich mich ebenfalls auf das braune Ledersofa setzen sollte oder lieber in mein Zimmer gehen sollte. Als ich jedoch ein Bücherregal am anderen Ende des Raums entdeckte, war meine Entscheidung gefallen. Ein riesiger Schrank voller Bücher. Über Pferde, über ihre Ausbildung und Verhalten, Romane, Ratgeber zum Stuntreiten. Ich vermutete, dass Mario sie nie benutzte, denn sie sahen außerordentlich neu und unbenutzt aus. Er hatte es auch nicht notwendig. Mit wenigen Schritten war ich dort und bestaunte die riesige Menge an Pferdebüchern.

Interessiert strich ich mit den Fingern über die Buchrücken. Und blieb schließlich an einem Rasseratgeber für Andalusier hängen. Mit etwas Kraft zog ich den Einband aus dem überfüllten Schrank und nahm ihn in die Hand. Ein kurzer Blick zu meinem Meister bestätigte mir, dass er wohl nichts dagegen zu haben schien, dass ich die dicken Wälzer las. Also ließ ich mich doch neben Marco auf das Sofa sinken, verschränkte die Beine zum Schneidersitz und begann zu lesen.

Ich wurde nicht enttäuscht von dem Inhalt, der unglaublich spannend war und war so vertief in den Lesestoff, bis ich plötzlich eine bekannte Melodie an mein Ohr drang. "Can we step outside, can we step outside..." Der Song kam aus dem Fernsehen. Verwundert sah ich auf und mir fiel beinahe meine Lektüre aus der Hand. Da war Island. Und Adam Sandler. Und... Da lief mein absoluter Lieblingsfilm im Fernsehen und ich hatte es nicht mitbekommen?! La vie rêvée de Walter Mitty. The secret life of Walter Mitty. Das erstaunliche Leben des Walter Mitty.

Ein Film mit einer wunderbaren Botschaft: Hör auf mit träumen und lebe deinen Traum.

Dem Jungen neben mir war es nicht entgangen, dass ich nun wie gebannt auf den Bildschirm sah. Schmunzelnd legte Marco sein Buch zur Seite. "Magst du den Film?" Was für eine überflüssige Frage. "Jaaa.", murmelte ich fasziniert und beobachtete Walter, wie er gerade mit dem Fahrrad durch Island fuhr. "Ist das nicht dieser Film mit dem Träumer und dem Life Magazin?", wollte Marco wissen und richtete sich etwas auf, um den ebenfalls besser auf den Fernsehen schauen zu können. "Ja.", wiederholte ich. Autsch. Jetzt war unser Tagträumer gegen das Straßenschild gefahren. Obwohl ich diese Szene in- und auswendig kannte, fühlte ich den Schmerz jedes Mal mit ihm.

"Und was fasziniert dich so an diesem Streifen?" Unwillig riss ich meine Aufmerksamkeit von der Mattscheibe los und sah meinen Gesprächspartner an. "Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht so genau. Vielleicht, weil es Island ist und diese ganze Sache um die Tagträumerei so fesselt? Fantasie ist eine Gabe, die man nutzen sollte. Denn sie ist unendlich und schafft so vieles...", schwärmte ich. Immer wenn ich Walter Mitty bei seinen Abenteuern zusah, fing ich an zu philosophieren. "Tagträumen ist nicht verlorene Zeit, sondern Auftanken der Seele...", setzte mein Gegenüber noch eins drauf. "Woher kennst du diesen Spruch?", fragte ich verwirrt. "Keine Ahnung, der stand irgendwo in einem Weisheiten Kalender. Träumst du viel?" Marco war ehrlich interessiert daran, das spürte ich. "Naja. Nicht mehr. Das habe ich früher. Bevor sich mein Traum erfüllt hat und ich dachte, ich bin noch-", erschrocken hielt ich inne. Jetzt hatte ich doch beinahe von meiner Zeit als 'normaler' Mensch geredet. "Als du noch was warst?", wurde jedoch schon weitergebohrt. "Nichts. Ich...", für einen Moment hielt ich inne. "Ach, nicht so wichtig...", lenkte ich vom Thema ab. "Und du? Träumst du viel?", plapperte ich direkt weiter, ohne ihm die Chance zu geben, weiterzufragen.

"Hör auf, um den heißen Brei herumzureden.", lachte der junge Mann. "Aber nein, ich bin eigentlich kein Träumer. Und welcher Traum hat sich bei dir erfüllt, dass du nicht mehr träumst?", lenkte er das Gespräch wieder in meine Richtung. Ich gestikulierte einmal um mich herum. "Das hier. Mario, Jovito, Stuntreiten... Was will ich mehr?" Lächelnd dachte ich daran, was ich alles erreicht hatte. Jetzt, in meinen jungen Jahren. Gerade erst erwachsen geworden und schon am Ziel. Eigentlich war es unglaublich. Marco schien kurz zu überlegen und wägte ab, ob er es wirklich fragen sollte, doch dann überwand er sich nach einigen Augenblicken. "Träumst du nicht von einem Leben gemeinsam mit irgendjemanden? Mit jemanden an deiner Seite?", wollte er vorsichtig wissen und drehte dabei das Gesicht weg. Seine Wangen waren leicht gerötet und dieser unschuldige, vorsichtig herantastende Blick lies meinen Bauch wieder leicht kribbeln. Ein angenehmes Gefühl, aber ich konnte es nach wie vor nicht zuordnen und so schnenkte ich ihm auch keine Beachtung.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf, war froh darüber, dass ich allmählich darüber hinweg kam. Ich hatte mich damit abgefunden, nicht lieben zu können und das war auch gut so. "Nein, ich denke, das würde nur Probleme verursachen. Für den Mann, nicht für mich. Ich weiß nicht, ob ich jemals so lieben kann, wie du es meinst.", schmunzelnd kämmte ich mir mit den Fingern eine verirrte Haarsträhne hinter mein Ohr. "Aber... du bist doch ein Mensch? Jeder Mensch kann das!", protestierte mein Gegenüber. Kichernd schüttelte ich den Kopf. "Du hörst dich an wie ein kleines Kind. Und Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel, oder nicht?" "Was für Probleme meinst du denn?", noch immer tastete er sich vorsichtig heran, fragte nicht einfach offen hinaus. Als würde er meine Reaktion abwarten wollen. "Du bist ganz schön neugierig. Was geht dich denn mein Liebesleben an? Waren wir nicht vorhin noch bei Tagträumen?", grinste ich vergnügt.

"Naja... Neugierde liegt in meiner Natur.", Marco ließ sich von meiner guten Laune anstecken. Warum ich so gut drauf war, wusste ich selbst nicht so wirklich. Aber es machte mir Spaß, mich locker mit ihm zu unterhalten. Es erinnerte mich an den Tag im Park damals. "Das ist aber nicht gut. Stelle niemals zu viele Fragen...", ermahnte ich ihn spaßhaft. "Das sagt Sylvain auch immer. Boah, geht mir der Typ auf die Nerven.", mein Gegenüber verdrehte die Augen. "Sylvain?", ich horchte auf. "Ja, dieser komische Mensch, der dich heute den ganzen Tag so merkwürdig angestarrt hat. Wenn du mich fragst ist der irgendein Geheimagent. So wie der sich manchmal verhält...", wurde mir meine Frage beantwortet. "Ach, und wie verhält er sich manchmal?" Neugierig geworden stellte ich meine Füße wieder richtig auf den Boden, stützte einen Arm auf die Sofalehne und drehte mich in seine Richtung. "Ach", äffte er meinen Tonfall nach, "Dieser komische Vogel ist also interessanter als ich?". Ihm war nicht entgangen, dass ich mich für Sylvain interessierte. Gespielt schmollend verschränkte er die Arme und schob die Unterlippe vor. "Du willst Aufmerksamkeit?", ich musste mich beherrschen, um bei seinem niedlichen Anblick nicht loszuprusten. "Jaa.", schmollte er weiter. "Kannst du haben!", rief ich lachend und stürzte mich auf ihn, um ihm die Kitzelattacke des Todes zu verpassen.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now