4. Vitus bedeutet Leben

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Sofort rutschte ich vom Zaun und ging einige Schritt in Richtung Straße. Vitos Galoppsprünge würde ich unter Tausenden wiedererkennen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Mario etwas verwirrt in die selbe Richtung wie ich blickte. Mein Pferd. Lebendig, wild.

Erleichtert schloss ich die Augen und ließ die Vibration des Bodens in mich übergehen. Ein kurzes Déjà-vu übermannte mich:

Ich schloss die Augen, spürte deutlich wie der Boden, aufgrund seiner Hufe, vibrierte. Der Wind, den er durch seine Geschwindigkeit erzeugte. Sein Atem, der schnell ging. Das Gesamtgefühl erzeugte eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper. Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Die Angst, dass es nur eine Illusion war, gewann kurz Überhand. Erst als ich merkte, dass er in den Trab verfiel, zwang ich meine Augen, sich zu öffnen. Mein Falbe lief gerade im Schritt auf mich zu und blieb dann zwei Meter vor mir stehen. Es war eindeutig Jovito, obwohl er fast komplett mit Schlamm bedeckt war. Seine Augen strahlten wieder Zuversicht und Hoffnung aus. Von der Angst war nichts mehr geblieben.

So war er damals zu mir zurückgekehrt. Doch diesmal wollte ich ihm in die Augen sehen, wenn er um die Ecke bog und sofort riss ich meine Augen auf. Und wirklich. Der blonde Hengst stürmte genau zu diesem Zeitpunkt um die Ecke und als er mich erkannte, weiteten sich seine Augen und er schüttelte ungläubig seinen Kopf. "Du bist es wirklich, Hanna!", schrie er freudig und lachend breitete ich die Arme aus. Ein paar Schritte lief ich ihm entgegen, während Vito eine Vollbremsung einlegte, um mich nicht umzurennen. Seine Vorderbeine knickten von dem Schwung ein und beinahe wäre er gestolperte, doch gerade noch so, konnte er seinen Übermut abfangen und mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht schlang ich meine Arme um seinen Hals. Ich spürte, wie Vito mir, wie früher, durch die Haare fuhr. "Den Geruch habe ich vermisst.", seufzte er und ich drückte mein Gesicht in sein weiches Winterfell. "Du riechst nicht mehr nach Arena.", stellte ich dann grinsend fest und drückte ihm einen Kuss in die Beuge zwischen Schulter und Hals.

"Ach, ich bin doch immer noch der Alte.", murmelte er. Dann schob ich ihn von mir. "Ich bin aber nicht hier, um zu kuscheln, sonder um meine tollen Fähigkeiten zu erweitern.", gab ich dann lachend zurück und Vito brummelte irgendetwas unverständliches, bevor er mir zu Mario folgte.

"Ich habe keine Ahnung, was du mit dem Pferd anstellst, aber du hast jetzt die nächsten paar Wochen genug Zeit, um es mir zu zeigen...", meinte dieser nur kopfschüttelnd und wandte sich wieder seinem Schimmel zu.

Doch meine Aufmerksamkeit wandte sich plötzlich einem Schäferhund zu, der begeistert um die Ecke sprang. Hinter Hevea folgte ein mir bekannter Junge. Lucio hatte zwei Pferde am Führstrick und band sie gerade an der Wand des Stallgebäudes an. "Luce?", rief Mario ihn dann. "Ja?", kam es prompt von ihm zurück. "Kannst du Hanna ihr Zimmer und anschließend den Hof zeigen? Ich habe noch mit Sueno zu tun!", gab er ihm zur Anweisung. Schnell holte ich meinen Koffer aus dem Auto und schob Vitos suchende Schnauze weg, die mir die ganze Zeit gefolgt war. "Da sind keine Möhren für dich drin!", sagte ich schmunzelnd und drehte mich zu Lucio um. Auch wenn ich viel lieber noch ein wenig mit meinem Goldstück beschäftigen wollte, so musste ich jetzt doch der Realität ins Auge sehen und mich auf meine Gastgeber konzentrieren. "Hi.", sagte ich schließlich zur Begrüßung. Der Lockenkopf lächelte ein wenig. "Schön dich mal wieder zu sehen.", gab er zurück und gab mir die Bises. Ich nickte und nahm mir meinen Koffer. Vito folgte uns, als sich mein Begleiter auf dem Weg zum Haupthaus machte. "Gehst du dann wieder kurz zurück auf deine Weide? In spätestens einer Stunde bin ich wieder bei dir und dann gehen wir noch so richtig schön ausreiten.", versprach ich meinem Hengst und dieser trollte sich beleidigt über meine Zurückweisung. Er tat mir schon ein wenig Leid, dass ich ihn jetzt einfach stehen lassen musste, aber gegenüber Mario wollte ich nicht wie ein pferdeverrücktes Mädchen wirken, sondern ernst und streng bleiben. Ich war hier um zu arbeiten.

Mittlerweile war es kurz nach drei und für einen langen Ausritt würde es wohl nicht reichen, denn es wurde schon früh dunkel. Lucio zeigte mir zuerst mein Zimmer. Es war eines der drei Gästezimmer, die das Haus beherbergte. Groß war es nicht gerade, aber das erwartete ich auch nicht. Ich würde sowieso nur hier schlafen und sonst nichts weiteres tun.

Das Haus war in zwei Etagen aufgebaut. Unten befanden sich ein geräumiges Wohnzimmer, ein kurzer Flur, eine Küche und zwei Gästezimmer, die aber nur für den äußersten Notfall verwendet wurden. Normalerweise dienten sie als Abstellraum. Von der offenen Küche führte direkt eine Treppe in die nächste Etage, in der sie direkt in der Mitte eines langen Flurs mündete. Wenn man von dort nach links ging, kam man in das Schlafzimmer von Mario und Marco. Unmittelbar gegenüber der Treppe befand sich das Badezimmer. Rechts davon lag Lucios Zimmer und dieser Tür gegenüber war eine weitere Tür, die in das Gästezimmer mündete, welches ich für die nächsten zwei Wochen beziehen würde. Groß war der Raum nicht gerade, aber das erwartete ich auch nicht. Es war sehr gemütlich. Die Wände waren in einem hellgelben, fast weißen Ton gestrichen und der Boden bestand aus einem schönen, angenehm blauen Teppichboden. Links neben der Tür stand an der Wand direkt das Bett, welches auch das Fenster ziemlich genau obendrüber hatte, sodass ich nicht mal aufstehen musste, um dieses  zu öffnen. Das gefiel mir. Rechts hinter der Tür stand ein Schrank und im hinteren Eck ein kleiner Holztisch. Ich stellte meinen Koffer einfach mal in der Ecke ab und drehte mich wieder zu Lucio um. "Von mir aus kannst du mir gerne gleich eine Hofführung geben, wobei ich auch nichts dagegen habe, das Ganze nach und nach selbst zu erkunden.", grinste ich.

Lucio seufzte. "Na gut, aber kann ich dir noch etwas zu Essen oder zu Trinken anbieten?" Ich schüttelte lächelnd den Kopf. "Du hast mir ja gezeigt, wo alles steht. Aber du kannst mir noch schnell zeigen, wo Vitos Box ist.", erklärte ich. "Also willst du doch eine kurze Stallführung, oder was?", fragte er nur schmunzelnd und ich nickte mit leuchtenden Augen. Meine Güte, war das aufregend. Ich meine, Mario Luraschi. Der Meister höchstpersönlich und ich war auf seinem Hof. "Na komm.", meinte Lucio und ich folgte ihm hinaus. Dort wartete mein Falbe wieder und ich schenkte ihm einen tadelnden Blick. "Habe ich nicht gesagt, du sollst auf die Weide?", flüsterte ich ihm zu, als mein Begleiter gerade nicht hinhörte. "Hast du, aber ich habe nicht auf dich gehört.", gab mein Pferd zurück.

Also nahm ich ihn mit in seine Box, die mir Lucio direkt zeigte. Dann führte er mich zu der riesigen Sattelkammer. Und die war wirklich riesig. In mehreren Zimmer stapelte sich das Lederzeug. Lucio erklärte mir, dass alles ein Prinzip hatte und dass man die wichtigsten Sachen ganz vorne fand. Dort entdeckte ich auch Vitos Sattel wieder und seine Trense. Im zweiten Raum stand eine Nähmaschiene und ein geräumiger Tisch, indem das Leder nur zu warten schien, bis es bearbeitet wurde. Das war Marios Lieblingsbereich, erklärte der junge Mann. Anschließend zeigte er mir noch das Putzzeug, was überwiegend gemeinschaftlich genutzt wurde. Nur ein paar Pferde, die empfindliche, anfällige Haut hatten, hatten einen eigenen Beutel mit Putzzeug an ihrer Box hängen. Danach verabschiedete er sich wieder und ging zu den zwei Pferden, die draußen angebunden waren. Ich dagegen machte in Windeseile meinen Falben fertig und saß kurz darauf wieder genau dort, wo ich hingehörte. Vito unter mir wartete geduldig auf meine Zeichen, er hatte deutlich dazugelernt, während ich weg war.

Er ging sofort versammelt und seine Muskeln waren etwas gewachsen, wenn auch nicht so viel, wie ich erwartete hatte. Ich hatte nur die Trense drauf, denn ich würde mich auch nicht weit vom Hof entfernen. Nachdem ich so lange nicht mehr richtig auf einem Pferd saß, war es mir erstmal zu gefährlich, mich aus der Sichtweite des Hofes zu entfernen. "Vito, ich bin nicht Mario.", sagte ich schließlich nach einer Weile genervt. Sofort verspannte sich mein Falbe. "Habe ich etwas falsch gemacht?", fragte er mich vorsichtig. "Nein. Aber wo ist mein Hengst hin? Das Pferd, das mir erlaubt hat, ein Teil von ihm zu sein? Das Pferd, das im Herzen wilder war, als jedes Wildpferd? Das Pferd, das mir vertraut hatte?", gab ich traurig zurück. Denn mein Falbe ging zwar schön und ordentlich, absolut perfekt für Marios Maßstäbe, aber das war nicht, was ich wollte.

Er war zu perfekt. Jede kleinste Hilfe wurde von mir angenommen und tadellos ausgeführt. Es war, als säße ich auf einem fehlerlos programmierten Roboter. Wo war die Wildniss hin, die ich so sehr an ihm geliebt hatte? Dieses perfekte Zusammenspiel zwischen Pferd und Reiter? Jetzt war da nur ich und das Tier unter mir, dass keinen eigenen Willen mehr hatte. "Ich laufe doch... so wie immer!", gab Vito dann schüchtern zurück. "Nein. Das tust du nicht.", sagte ich leise und lenkte ihn auf das Feld hinter dem Hof. Dann nahm ich ihm die Trense ab und hängte sie mir über die Schulter. "Lass uns die Freiheit zurückholen.", flüsterte ich nur und gab ihm die Galopphilfen.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now