39. Hallelujah

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Mein nächster Weg führte zu Mario. Er hatte mir schließlich angewiesen, ich sollte ihnen beim Training mit den Jungtieren zusehen. Oder mich beteiligen. So genau hatte er es nicht gesagt. In der Halle wartete bereits Mario, er hatte ein braunes Pferd an der Hand und versuchte geduldig dem Tier zu erklären was er wollte. Natürlich tat er es nicht mündlich, sondern mit bestimmten Hilfen und der Gerte, die er ausschließlich zum sanften Antippen gewisser Stellen nutzte.

Ich setzte mich an den Rand, sah ihm zu und wartete, bis er mich bemerkte. Dies dauerte allerdings eine Weile, da er komplett in seine Arbeit vertieft war. Erst als sein Sohn lautstark das Tor hinter sich schloss, sah er auf. Zuerst erblickte er den Junior, dann fiel sein Blick auf mich. Kurz sah er zwischen uns hin und her, dann entschied er sich wohl doch dafür, uns zusammen zu lassen und nicht zu trennen. Dies quittierte ich mit einem kurzen Lächeln zu Beiden und prompt steuerte mein Freund auf mich zu. Jedoch machte uns sein Vater einen Strich durch die Rechnung. „Marco, kommst du mal bitte? Und Hanna, du kannst gerne da sitzen bleiben, vorerst solltest du nur mal zuschauen.", erläuterte er seine Pläne und ich tat wie geheißen. Obwohl das Pferd, mit dem er arbeitete, noch so jung war, war ich dennoch fasziniert, wie das Zusammenspiel der Beiden reibungslos klappte. Und das ganz ohne sprachliche Verständigung. Mario konzentrierte sich allein auf die Körpersprache. Es war mir eine Ehre, diesem fast perfekten Paar zusehen zu dürfen. Denn obwohl in meinen Augen perfekt relativ war, so war die Perfektion mit Mario als Trainer fast erreicht. Einmal mehr wurde mir klar, welches Glück ich hatte. Aufgenommen bei einem der berühmtesten und besten Pferdetrainer, den die Welt jemals hervor gebracht hatte. Ich war seine persönliche Schülerin, sein Lehrling. Ich hatte das Glück, von ihm zu lernen. Mir war bewusst, welche Ehre mir zuteil geworden war. Vor allem, weil ich wusste, dass so etwas nicht jedem passierte. Was hatte ich noch vor einem Jahr gedacht? Dass meine Gabe nur eingeschränkt war. Unnötig und einfach nur ein Wink des Schicksals. Allerdings bedeutete Moondancer sein, weit mehr als nur mit Pferden reden zu können. Es war eine Leidenschaft, eine Lebenseinstellung und ein Weg, der diese Liebe zu den Vierbeinern nur verstärkte. Ob es so etwas auch für andere Tiere gab? Oder gab es nur uns, die Moondancer? Es gab ja auch Magier und Hexen. Oder noch mehr solcher phantastischen Wesen? Vielleicht Einhörner? Oder Gestaltswandler, die jede beliebige Form eines Tieres annehmen konnten? Die Welt war weitaus größer, als ich mir jemals vorstellen konnte und vor allem war sie für so vieles offen.

Als ich bemerkte, wie ich abschweifte und schon wieder anfing über Gott und die Welt zu philosophieren, gab ich mir innerlich selbst eine Schelle. Entweder hing ich zu viel mit Fred ab oder ich war einfach nur philosophisch veranlagt. Meine Konzentration wandte sich wieder dem Geschehen in der Mitte der Halle zu. Diesmal trainierte Marco einen hübschen Rappen, dessen Mähne bis über den Hals reichte. Ein wahrer Traum von Pferd. Auch hier sah man deutlich die Züge und die Einfühlsamkeit seines Vaters. Im Umgang mit den Tieren kam der Junior deutlich nach seinem Erzeuger. Und auch hier wurde mein Blick magisch von den einzelnen Bewegungen, die sich mir darboten, angezogen. Zudem kam die Tatsache, dass Marco so oder so in allem, was er tat gut aussah. Zumindest in meinen frisch verliebten Augen. Die Tatsache, dass ich ihn vor zwei Wochen noch nicht einmal richtig gekannt hatte, ließ mich schmunzeln. So viel hatte sich in der Zwischenzeit geändert. Und vor allem war so wahnsinnig viel passiert.

Während ich weiter über alles Mögliche nachdachte und gleichzeitig versuchte, mir die verschiedenen Hilfen einzuprägen, wartete mein Unterbewusstsein nur darauf, von Mario gebeten zu werden, ebenfalls Hand anzulegen. Doch dem war nicht so. Erst als er sagte, er würde die Session für den Tag beenden, bemerkte ich das. Verwundert sprach ich ihn darauf an. „Sollte ich wirklich nur zusehen?", wollte ich wissen und mein Meister nickte. „Vom Zusehen lernt man meistens oft mehr, als man denkt. Und hätte ich dich arbeiten lassen, wärst du nur wieder nach deinen Methoden gegangen. Dabei ist mein Ziel eigentlich, deinen Horizont zu erweitern, um mehr Möglichkeiten des Trainings kennenzulernen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, wenn du Marco zusiehst, prägt sich das noch besser in dein Gedächtnis ein.", er zwinkerte mir zu und vor Erleichterung lächelte ich ihn an. Hieß das, er hatte endlich Marco und meine Liebe akzeptiert? Ich hoffte es. Ich hoffte es so sehr...

Statt einer Antwort schmunzelte ich nur vielsagend und stand endlich wieder auf. Der kalte Sand machte sich langsam bemerkbar. „Aber Hanna", hielt er mich noch auf, bevor ich mich auf den Weg ins Haus machen konnte, „Nach dem Abendessen will ich dich gerne noch in der Sattelkammer sehen, ok?" Ich nickte gehorsam und ging mich etwas aufwärmen. Während ich wieder eine Weile das Bücherregal durchstöberte, bemerkte ich einen großen, unförmigen Karton auf dem Regal. Er war etwas verstaubt, doch verwundert begutachtete ich ihn. Normalerweise war alles irgendwie bei Mario aufgeräumt, auch wenn ich mich fragte, wer das machte. Mein Meister hatte dazu ja kaum Zeit. Jedenfalls war mir dieser Karton noch nie vorher aufgefallen und in meiner Naivität hoffte ich, dass darin vielleicht ein paar alte, verborgene Bücherschätze darauf warteten, wieder entdeckt zu werden. Da ich sowieso gerade nichts Besseres zu tun hatte, zog ich einen Stuhl heran und versuchte, irgendwie an den Karton heranzukommen. Er war überraschend schwer dafür, dass ich Bücher darin vermutete. Als ich ihn mit etwas Gewalt endlich von seinem Platz auf den Boden verfrachtet hatte, wurde ich erst einmal in eine Staubwolke gehüllt. Hustend öffnete ich den Karton und hoffte, für all die Anstrengungen wenigstens vielleicht das Buch aller Bücher zu finden. Dem war aber nicht so.

Ein weißes, überraschend einwandfreies Akkordeon strahlte mir entgegen. Es sah merkwürdigerweise so aus, als würde jemand regelmäßig darauf spielen, doch ich kannte keinen von den Luraschis, der das Instrument beherrschte. Oder doch? Bis vor drei Jahren hatte ich auch noch gespielt, dann allerdings aufhören müssen. Die Pferde nahmen immer mehr Zeit in meinem Leben ein, dass für ein anderes Hobby kein Platz mehr war. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich sogar das Hohner-Logo und stellte erstaunt fest, dass da eine waschechte Champion vor mir lag. Wow. So ein Akkordeon hatte ich damals immer gewollt, aber es war zu teuer und dann hatte ich ja sowieso aufgehört.

Probeweise holte ich es heraus und spielte einige Töne an. Das Instrument klang astrein, aber meine Wenigkeit war eine Katastrophe. Dass ich nach drei Jahren schon alles verlernt hatte, konnte auch nur mir passieren. Grinsend klimperte ich eine Weile sinnlos darauf herum und entdeckte schließlich wieder die Anfangstöne von Hallelujah. Das Lied hatte ich damals für eine Hochzeit auswendig lernen müssen. Irgendwann hing es mir zum Hals raus, aber jetzt musste ich feststellen, dass es das einzige war, was ich noch spielen konnte. Nach einem etwas holprigen Durchgang, da ich erst die Töne suchen musste, klappte es endlich wieder.

Weit kam ich jedoch nicht. Kurz vor dem Ende des ersten Durchgangs meinte Marco, mir den Schreck meines Lebens einzujagen. Beinahe hätte ich ihm das zehn Kilo schwere Instrument um die Ohren gehauen, doch rechtzeitig realisierte ich, dass es der junge Luraschi war. „Das nächste Mal, wenn du mich so erschreckst, hast du das Ding wirklich im Gesicht.", kommentierte ich lachend, als er einen rettenden Satz nach hinten machte. „Wusste ja nicht, dass du so reagierst.", grummelte er belustigt und ließ sich neben mich auf das Sofa fallen, auf welchem ich zum Spielen Platz genommen hatte. „Spielst du?", wollte er wissen und nickte zu der Champion auf meinem Schoß. „Nicht mehr. Hatte irgendwann keine Zeit mehr.", ich machte eine kleine Pause, dann drehte ich die Frage herum. „Und du?" „Nein, nicht wirklich. Ich kann ein paar simple Melodien spielen, aber mit der Bassseite kann ich gar nichts anfangen. Meine Mutter hat gespielt, das ist ihr Akkordeon. Keine Ahnung, wo du das wieder aufgetrieben hast, eigentlich gehört es irgendwo in eine Abstellkammer. Sie hat es hiergelassen, als sie gegangen ist." Sein letzter Satz klang bitter. „Warum ist sie eigentlich gegangen?", fragte ich neugierig weiter. „Weil mein Vater nicht fähig ist ei-", schoss es aus ihm heraus, doch dann brach er ab und holte tief Luft. „Da war nichts. Nichts, was dich angeht.", murmelte er etwas ruhiger. Für einen Moment überlegte ich, ob ich meiner Neugier nachgeben sollte, oder ob ich die klügere Variante nehmen sollte. Oder sollte ich verletzt reagieren, dass er mir nichts genug Vertrauen schenkte, um so etwas zu erzählen? Ich entschied mich für die klügere Variante. Ich hatte so oder so wenig Zeit mit Marco und wenn ich die zerstören würde, nur weil ich neugierig war... Nein, lieber nicht.

Mein Gesprächspartner nutzte meine kleine Denkpause, um schnell das Thema zu wechseln. „Du musst mir unbedingt noch etwas vorspielen." „Ich kann aber nicht mehr spielen!", protestierte ich und versuchte so, meine nicht mehr vorhandenen Akkordeon Fähigkeiten zu umspielen. „Hab ich gehört.", er grinste. „Touché.", seufzte ich und setzte zu Hallelujah an. Es war nicht mehr das, was es mal gewesen war. Etwas holprig, etwas ungleichmäßig, ohne Eleganz. Aber wenigstens lief es, dafür, dass es auswendig war, ganz gut von der Hand.

She tied you to her kitchen chair

She broke your throne and she cut your hair

And from your lips, she drew the

Hallelujah.

Moondancer - Maître des ChevauxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt