35. Aura

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Nach dem Mittagessen, am Nachmittag, war das Tjosten immer noch in vollem Gange. Diesmal allerdings mit einer anderen Gruppe. Da ich noch ein wenig Lust hatte, mich mit meinem Hengst zu beschäftigen, beobachtete ich das Geschehen dann vom Pferderücken aus. Marco gesellte sich irgendwann zu mir, allerdings auf einem schwarzen Wallach, der Blacos überraschend ähnlich sah. Jedoch war es nicht Blacos, da war ich mir sicher, denn dieser gehörte Ludo persönlich und konnte dementsprechend nicht hier sein. Wir beide trainierten unsere Pferde ganz nach Marios Vorstellungen für einen Film, bei dem er demnächst mitwirken wollte. Ich glaubte, dass es ein weiterer Asterix Film war, jedoch war das nicht ganz sicher. Jedenfalls trainierten wir die Pferde daraufhin, auch wenn wir wussten, dass weder der Schwarze noch Vito in dem Film mitspielen würde.

Wir ließen die anderen in Ruhe trainieren und als es langsam dunkel wurde, brachten wir die Vierbeiner wieder zurück in ihre warmen Boxen. Da es aber erst kurz nach Fünf war, saß ich noch eine Weile in Jovitos Box und schwelgte in Erinnerungen an den letzten Sommer, an dem ich das so oft gemacht hatte. Der Falbe kaute an einigen Heuhalmen herum und lauschte mir, wie ich leise irgendwelche, belanglose Sachen erzählte. Bei der Geschichte mit Charles Shampoo, musste er grinsen. „Der Mann hat es dir aber ganz schön angetan, oder?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Nur seine Haare. Immerhin habe ich Marco.", schmunzelnd schmiss ich einen Strohhalm in seine Richtung, als ich seine Gedanken durch das belustigte Funkeln seiner dunklen Augen erriet. „Nein, ich will nichts von ihm. Ernsthaft!", verteidigte ich mich belustigt. „Wer's glaubt, wird selig.", kommentierte Vito neckend. „Amen.", gab ich trocken zurück. „Aber jetzt sag mal, wer ist eigentlich dieser Mann, den du vorhin ebenso angeschmachtet hast? Da war neben Charles noch einer, das habe ich deutlich gespürt. Zumindest warst du in Gedanken die meiste Zeit bei ihm." Ich musste mich konzentrieren, um mein Pferd zu verstehen. Mit Heu im Mund nuschelte er.

„Merkst du so etwas?", fragte ich verwundert. „Natürlich, ich weiß genau, was du da oben denkst. Oder zumindest merke ich, wenn du richtig bei der Sache bist. Und heute warst du das nicht." „Hmm... Marco hat mit uns trainiert, weißt du nicht mehr?", antwortete ich nachdenklich. Wenn mein Hengst so etwas spürte, brauchte ich in Zukunft keine Geheimnisse vor ihm zu verstecken. Er würde trotzdem dahinterkommen. „Nein, wenn du an Marco denkst, bekommst du die verliebte Aura, das ist etwas Anderes, als einfaches Anschmachten." Holy, er bemerkte überraschend viel. „Weiß ich nicht, heute waren einige gute Freunde da, vielleicht deshalb?"

„Ach was, da war noch eine stärkere Aura. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Eine Art von Verehrung? Oder doch eher Faszination? Diese Aura war neu bei dir, die habe ich in dem Maß noch nie vorher realisiert.", versuchte der Falbe zu erklären. „Gegenfrage: Konzentrierst du dich eigentlich auf das Training oder darauf, wie es mir geht?", mein sarkastischer Unterton war ihm nicht entgangen, er hob überraschend den Kopf. „Wenn du mit deinen Gedanken bei mir gewesen wärst heute, dann hättest du vielleicht bemerkt, dass die Übungen, die du verlangt hast, mehr als einfach waren. Aber wer mit den Gedanken woanders ist, oft übrigens auch bei Marco, der bekommt so etwas anscheinend nicht mit." „Tut mir leid.", entschuldigte ich mich, „Aber heute waren so viele tolle Leute da. Vielleicht deshalb. Ich meine, da war Marion und vor allem Fred." „Fred?", wollte Vito verwirrt wissen. Hatte ich ihm noch nicht von dem Komponisten erzählt? „Ist so ein Komponist. Und Stuntreiter. Ich mag ihn.", fasste ich schulterzuckend zusammen.

„Achtung, da kommt jemand.", warnte Vito und sah kurz in die Richtung des Stalleingangs, die Ohren in die Richtung des Geräusches gerichtet. Seiner Warnung folgend, blieb ich ruhig und lauschte den schweren Schritten, die von einer unbekannten Person kamen, bis sie wieder verklungen waren. „Alles sicher?", fragte ich nach der Entwarnung. „Ja, denke schon." Vito senkte den Kopf wieder und knapperte weiter an seinem Heu. Als ich einen kurzen Blick auf die Uhr warf, erschrak ich jedoch. Es war halb Sieben. Wie wir von dem Thema Lieblingsessen auf Fred gekommen waren, wusste ich schon nicht mehr, aber lange genug hatten wir jetzt sowieso geredet. Und ich wusste immer noch nicht, womit ich Vito die größte Freude machen konnte.

Ich stand langsam auf und lehnte mich dann an die Boxentür. „Bevor ich jetzt aber mich verabschiede, sagst du mir noch, was du am liebsten isst.", grinste ich. Mein Falbe seufzte. „Wenn ich mich unbedingt auf etwas entscheiden muss, dann nehme ich Himbeeren. Die hast du mir einmal mitgebracht, weißt du noch? Gegen Ende der Ferien war das. Eigentlich waren die für dich bestimmt, aber du hattest mir ein paar davon abgegeben.", erklärte er und kam dann zu mir, um zum Abschied mir mit der Schnauze über die Wange zu fahren. „Ok.", lächelte ich. „Dann schlaf gut, Schöner. Wir sehen uns Morgen wieder." „Du auch, Hanna.", murmelte er und wandte sich dann wieder seinem Heu zu. Ich verließ die Box wieder und schenkte ihm noch einen letzten Blick, bevor ich mich zum Haupthaus aufmachte.

Nach einem kurzen Abendessen, das ich allein einnahm, fand ich die Familie schon im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen. Ich überlegte, ob Mario alleinerziehend war, da ich noch keine Frau hier auf dem Hof gesehen hatte. Zumindest nicht in dem Sinne, dass sie seine Frau war. Hatte Mario überhaupt einmal geheiratet? Ich wusste es nicht, aber um ehrlich zu sein ging es mich nichts an, noch interessierte es mich. Auf dem Weg zum Sofa machte ich einen Abstecher zum Bücherregal und nahm mir wieder Zorro hinaus. Anschließend ließ ich mich neben Marco auf die bequeme Couch fallen und suchte die Stelle, an der ich aufgehört hatte. Es war die Szene, in der Señor Zorro einen Lehrling auspeitschte, die in ein neues Kapitel endete. Meine Augen flogen über die französischen Wörter, bei den spanischen blieben sie etwas länger hängen. Ich liebte die kleinen, spanischen Wörter wie caballero, welches für eine Art spanischen Ritter stand.

Marco konzentrierte sich weiter auf den Film, er legte mir nur stumm den Arm um die Schultern und zog mich etwas an sich. Mario warf uns nur einen kurzen, missbilligenden Blick zu, hatte aber wahrscheinlich keine Lust, sich nach einem anstrengenden Arbeitstag noch zu streiten und sagte nichts dazu. Ich genoss das und kuschelte mich nur an meinen persönlichen Stuntengel, um mir so den Abend mal wieder perfekt zu machen.

Am nächsten Tag weckte mich eben dieser Mensch, in dessen Arme ich noch am Abend zuvor eingeschlafen war, denn er war etwas später, nach dem die Anderen ins Bett gegangen waren, noch einmal zu mir gekommen und hatte meine Nähe gesucht. Ich hatte überlegt, ob ich dasselbe tun wollte. Doch dann hatte ich mich nicht getraut, in der Dunkelheit, mich durch das fremde Haus zu tasten. Also hatte ich innerlich darauf gehofft, er würde zu mir kommen, was er dann auch gemacht hatte. Jedenfalls kam er am Morgen zu mir und legte sich einfach zu mir auf die Bettdeckte. Das Gewicht eines anderen Menschen auf meinem Bett, ließ mich allerdings so erschrecken, dass ich entsetzt aufsprang und innerhalb von zwei Sekunden aus dem Bett gesprungen war. Dabei hatte ich jedoch Marco so überrumpelt, dass er ebenfalls unsanft das Bett verließ. Normalerweise kannte man ja immer diese Liebesfilme, in denen sich der Mann zu der Frau legte und sie langsam aufwachte und ihn anlächelte. Jedoch war die Realität anders, da ich ihn nicht kommen gehört hatte.

Besagter Weckdienst lag nun grinsend ausgestreckt am Boden. „Jetzt versucht einmal nett zu seiner Freundin zu sein und was bekommt man? Einen blauen Fleck mehr, weil man aus dem Bett geschmissen wird. Je t'aime aussi." Obwohl sein letzter Satz einen ironischen Unterton hatte, wusste ich dennoch, dass das „Ich liebe dich auch", genauso gemeint war. „Du hättest mich vorwarnen können, dann hätte ich dich vielleicht mit einem ‚Guten Morgen, Liebling' begrüßt. Aber so..." Ich kicherte und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und ließ sich von mir hochhelfen. „Das hättest du eh nicht gesagt. Du benutzt viel zu selten Kosenamen." „Ach, ja? Soll ich denn mehr verwenden?", ich schmunzelte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich mich meinem Koffer zuwandte, um meine Klamotten rauszusuchen. „Muss nicht sein, die meisten Kosenamen sind sowieso nicht einfallsreich genug und gehen einem nur auf die Nerven. Nicht wahr, ma Belle?" Bei seinem Namen für mich, lächelte ich ihn nur erfreut an und holte dann zwei Pullover aus meiner Tasche. „Der Rote oder der Blaue?", fragte ich und hielt sie neben mich. Ohne zu zögern zeigte er auf das Blaue. „Ich mag die blaue Farbe an dir.", kommentierte er seine Entscheidung. „Na gut.", ich scheuchte ihn mit einer Handbewegung aus meinem Zimmer. „Beim Umziehen brauchst du mich trotzdem nicht anzugaffen.", erklärte ich. „Schade, aber dann warte ich halt unten in der Küche auf dich." Er schenkte mir noch ein Lächeln, dann verzog er sich nach unten und ich machte mich in aller Ruhe fertig. Mit Marco konnte mein Tag von mir aus gerne beginnen. Solange er mich nicht zu Tode erschreckte.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now