36. Exitus

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Beim Frühstück hielten wir Konferenz. Während ich noch gemütlich mit meinem Nutellabaguette beschäftigt war, schwang mein Meister schon große Reden. Er hatte zwar noch die dicke, rote Kaffeetasse in der Hand und trank gelegentlich einen Schluck daraus, doch im Geist ging er schon seinen Tagesplan durch. „Lucio, hast du eigentlich die Steuerdings fertig?", fragte er den älteren Bruder, der bestätigend nickte. „Ist soweit eigentlich fertig. Sieht aber nicht gut aus. Pferdefutter kann nicht angesetzt werden.", seufzte er. Mario zuckte mit den Schultern. „Du regelst das schon, ich verlasse mich da auf dich.", erklärte er und wandte sich dann an den Anderen. „Ich brauche dich heute beim Training. Ausbildung der Jungtiere, am besten noch vor Sonnenuntergang.", er warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Marco verdrehte die Augen, nickte aber stumm. Dass sein Sohn seinem Vater nur ungern auf dessen Befehlen folgte, wussten Beide. Erst zum Schluss wurde mein Tagesplan verkündet. „Solange es hell ist, hätte ich gerne, dass du auf jeden Fall einen Abstecher zur Seniorenweide machst. Bring Felicitas mit, es hat sich jemand wegen ihr gemeldet." Ich hatte ihm von der Situation der Stute erzählt und dass sie gerne ein Freizeitpferd wäre. „Nimm auf jeden Fall ein Handy mit, wenn du allein losziehst. Überprüfe einfach kurz die Zäune und den Gesundheitszustand. Heute Mittag hätte ich dich gerne beim Training dabei, Marco und ich sind wahrscheinlich dann in der Halle. Und wenn es dunkel ist, will ich dich noch in der Sattelkammer sehen, alles klar soweit?", zählte er auf. Ich nickte gehorsam, dann hatte ich heute wohl einiges zu tun.

Nachdem ich mein Geschirr weggeräumt hatte, machte ich mich schon auf die Suche nach meinen gefütterten Reitstiefeln. Das Thermometer zeigte irgendetwas im Minusbereich an. Bevor ich jedoch meinen Aufgaben nachgehen konnte, hielt mich Mario noch einmal auf. „Such dir ein Pferd aus, du hast freie Wahl." Wieder nickte ich. „Dann nehme ich Vito, wenn es dir nichts ausmacht.", entschied ich mich. „Nein, kein Problem. Solange du heute Mittag wieder da bist und keinen großzügigen Abstecher machst...", er grinste wissend. „Ich genieße halt meine Zeit mit meinem Pferd.", verteidigte ich mich lachend und fand dann endlich meinen zweiten Stiefel, in den ich umständlich hineinschlüpfte.

Im Stall war es ebenfalls merklich kühler als vorher. Vielleicht hatte mein Meister dafür gesorgt, dass die Pferde sich an die momentan herrschenden Temperaturen gewöhnten. Vito lag noch dösend am Boden, als ich an seine Box kam. Ich schnalzte einmal mit der Zunge, um auf mich aufmerksam zu machen. Müde öffnete mein Falbe ein Auge, grummelte irgendetwas und stand dann langsam auf. „Hi.", begrüßte er mich schlicht, sobald er sich das Stroh vom Leib geschüttelt hatte. „Guten Morgen, Großer. Wir gehen wieder raus.", erklärte ich die Pläne für heute und sah mich kurz um, ob nicht irgendwo Putzzeug herumlag. Natürlich nicht, es herrschte Ordnung im Stall. „Draußen ist es aber so kalt.", jammerte der Hengst schlecht gelaunt und ich verdrehte die Augen. „Du hast Winterfell, also stell dich nicht so an." Ich machte einen Beutel mit Putzzeug etwas weiter weg aus und machte mich auf, um ihn zu holen. Dabei musste ich an Nevado vorbei, der vor Motivation regelrecht zu sprühen schien. „Wohin gehst du? Darf ich mit? Was hast du vor?", bombardierte er mich mit Fragen und tänzelte aufgeregt auf der Stelle. Seine weißen Ohren waren freundlich aufgerichtet und er strahlte mich vor Begeisterung regelrecht an. „Nichts mit dir, sorry.", wimmelte ich ihn in einem belustigten Unterton ab. Er war so süß mit seinem kindlichen Charakter. Immerhin war er noch so jung und hatte noch nichts Schlechtes in der Welt gesehen. Er lebte noch sein Alter, was ihn deutlich von Vito unterschied. Ich kannte seine Vergangenheit immer noch nicht genau, er verriet mir in dieser Hinsicht nur ungern etwas, doch etwas Gutes war es sicherlich nicht gewesen.

Nachdem ich endlich einen Beutel gefunden hatte, putzte ich im Schnelldurchlauf meinen Falben und saß eine Viertelstunde später auf seinem bloßen Rücken. Ausgestattet mit einem extra Halfter und Nevado an einer Hand, der so lange gemeckert hatte, bis ich mich endlich erbarmt hatte. Nun durfte er doch mit, worüber er sich so ungebändigt freute, dass ich erst einmal alle Hände voll zu tun hatte, um ihn einigermaßen neben Vito zu halten, der geduldig das nervige Verhalten des Schimmels ertrug. Nach der Hälfte der Strecke hatte ich ihn jedoch soweit beruhigt, dass er einigermaßen artig an der Hand lief. Ich ahnte, dass ich noch jede Menge Arbeit vor mir hatte, wenn er nach Rust kommen würde. Hatte Mario nicht gemeint, ich solle Nevado auch in Kaltenberg verwenden? Da kam auf jeden Fall eine Herausforderung auf mich zu.

Die beiden Pferde verstanden sich aber nach wie vor prima, sodass wenigstens das kein Problem darstellte. Es war eher sogar das Gegenteil. Vitos Ruhe sprang auf das andere Pferd über. Im Schritt ritt ich so durch die weiße Landschaft, genoss die stille, morgendliche Atmosphäre und der Sonnenaufgang, der gerade kurz bevor stand. Er tauchte die Umgebung in ein schönes, trübes, orangenes Licht. Ich versank wieder in eine Art von morgendlicher Melancholie. Das stille Knirschen der Hufe im Schnee, die gleichmäßige Atmung von Vito, dessen Brustkorb sich regelmäßig hob und wieder senkte. Nevado, dessen weißes Fell sich nahtlos in die Umgebung einfügte. Obwohl er noch etwas dunkler war, da Schimmel erst im Alter komplett weiß wurden, so passte es dennoch perfekt. Denn der Schnee war ja auch nicht an allen Stellen komplett rein weiß. Unser Atem verwandelte sich in der kühlen Luft in weiße Wölkchen, die erst mit der Zeit komplett verflogen. Es war schön, daran bestand kein Zweifel.

Irgendwann begann ich, das Tempo etwas zu erhöhen, was beide Tiere willkommen hießen. Damit konnten sie sich nämlich wunderbar aufwärmen. Obwohl ich die weichen Gänge meines Falben schon gewöhnt war, überraschte es mich jedes Mal wieder aufs Neue, wie gemütlich er zu sitzen war. Bei Nevado sah das nicht ganz so elegant aus, wie bei Vito. Seine Schritte waren deutlich schwungvoller und schneller. In regelmäßigen Abständen musste ich ihn bremsen, damit er nicht überholte. Ihn auszusitzen würde auf jeden Fall schwerer werden.

Nach einer Weile im Trab bog ich auch schon um die Kurve und konnte in der Senke, die sich hier zwischen zwei Hügeln aufmachte, die riesigen Koppeln ausmachen. Felicitas dunkles Fell entdeckte ich als Erstes. Sie hatte uns kommen gehört und stand erwartungsvoll am Zaun. Ich parierte beide Pferde durch und band sie am Holzzaun an, damit sie hierblieben. Bei meinem Hengst machte ich mir da wenige Sorgen, doch Nevado vertraute ich noch nicht wirklich.

„Hallo, Felicitas.", begrüßte ich sie und strich ihr zur Begrüßung über die Nase. Sie entzog sich, wie immer, meiner gut gemeinten Berührung. Sie wurde nicht gerne im Gesicht angefasst und schon gar nicht von mir. Lächelnd öffnete ich das Gatter und sah mich kurz prüfend um. „Wo sind sie denn?", wollte ich von der Stute wissen. Ich konnte die Herde auf den ersten Blick nicht ausmachen. „Im Wald. Da zieht es nicht so wie hier auf der offenen Fläche.", erklärte sie und ich folgte ihr, als sie voraus lief. Und wirklich, dort standen sie. Mit geübtem Blick zählte ich kurz durch. Es waren noch alle 23 Tiere da. „Wie geht's?", fragte ich in die Runde, doch es kamen keine Beschwerden an. Es schien also alles in Ordnung zu sein. Ich überprüfte die Tränken, die in dem geräumigen Unterstand zu finden waren. Mithilfe von Schläuchen wurde hier das Grundwasser direkt nach oben gepumpt und mithilfe eines Isoliersystems wurde das Ganze im Winter warm und im Sommer kühl gehalten. Gerade so warm, dass es nicht zufror. Es funktionierte noch einwandfrei. Auch Heu war noch genug da. Also startete ich meinen Rundgang um den Zaun, es gab keine brüchigen Stellen und zumindest auf dieser Weide war alles in Butter. Damit ging ich wieder zurück zu meinen Pferden und nahm sie mit auf die zweite Koppel.

Dort stand die Herde am anderen Ende, sodass ich nicht lange zögerte und auf Jovito hintrabte. Nevado ließ ich unterdessen in der Umzäunung frei, er blieb jedoch in unserer Nähe. Während auf der anderen Seite noch alles in Ordnung zu sein schien, war hier irgendetwas merkwürdig. Die Stimmung war merklich gedrückt. Ich zählte durch. 15 Tiere waren da, eines fehlte. „Alles klar?", ich rutschte von dem Rücken des Falben hinunter und mischte mich unter die Herde. Ein alter, grauer Wallach schüttelte den Kopf. „Sante ist tot.", meinte er trocken und deutete weiter nach hinten, wo irgendein brauner Fellhaufen regungslos am Boden lag. Ich schnappte erschrocken nach Luft und rannte dann schnell dorthin. Mit geschlossenen Augen und komplett regungslos lag da ein Pferd, ein hellbrauner mit pechschwarzer Mähne. Mit geübten Fingern suchte ich den Puls, es war keiner da. Doch der Körper war noch relativ warm. Es fühlte sich so merkwürdig an. Als würde er nur schlafen und doch war er komplett regungslos. Mit zitternden Händen holte ich mein Handy aus der Jackentasche und rief Mario an, der auch kurz darauf dranging. „Hanna?", fragte er, wahrscheinlich hatte er mich eingespeichert. „Ja.", erwiderte ich ruhig, „Sante ist gestorben." „Oh.", entfuhr es meinem Meister. „Tut mir Leid, dass du das sehen musstest." „Ist schon in Ordnung.", gab ich knapp zurück. „Lass ihn am besten da liegen, ich kümmere mich darum.", lautete seine nächste Anweisung und ich wand mich von dem Körper des toten Tieres ab. „Alles klar.", murmelte ich und legte wieder auf. Obwohl ich eigentlich kein Problem mit toten Tieren hatte, ein totes Pferd war da doch etwas ganz Anderes. Mit eiligen Schritten lief ich den Zaun ab, entdeckte keine Auffälligkeiten und machte dann, dass ich wieder zu meinen Pferden kam. Felicitas nahm ich an die rechte Hand, meine stärkere, und Nevado lief links von mir. So ging es in zügigem Schritt wieder zurück zum Hof.


Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now