5. Freiheit

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Der Hengst galoppierte an. Doch, obwohl ich mich problemlos auf seinem Rücken halten konnte, fehlte mir etwas. Sein versammelter, artiger Galopp war das komplette Gegenteil von dem was ich kannte und von dem was ich erwartete. Was hatte Mario nur mit meinem Pferd gemacht? Es war wie ein kleiner Verlust, ich vermisste meinen Jovito von früher. Einzelne Tränen rannen mir über die Wange. "Komm schon!", rief ich ihm ins Ohr. "Wo bist du, Großer?" Er drehte kurz den Kopf, seine dunkle Augen trafen meine.

Dann schloss er sie kurz, noch während dem Laufen und es war, als ob er kurz in sich hineinhören musste. Dann atmete er einmal tief ein und plötzlich ging ein vertrauter Ruck durch seinen Körper. Die Nase legte er flach in den Wind und ich beugte mich dicht über seinen Hals. Mit einem Schlag wurde er schneller. Seine offene Mähne, die kein Stück länger geworden war, anscheinend hatte Mario ihm mal die Spitzen abgeschnitten, flog mir ins Gesicht und ich spürte wieder diesen Wind, den ich so vermisst hatte. Der Wind, der in meinen Körper fuhr und mich mit dem Gefühl der Freiheit ausfüllte. Auch ohne die blauen Ströme war ich wieder dort angekommen, wo ich hinwollte. Zu dieser Einheit, die mir so gefehlt hatte. Glück erfüllte mich und trieb die dunklen Gedanken der letzten zwei Monate endgültig aus mir hinaus. Und wenn es nur die Kleinigkeiten waren, wie das leichte Ziepen an meiner Kopfhaut, wenn der Wind an meinen offenen Haaren riss oder die Wärme, die von meinem schönen Hengst ausging. All dies waren die Kleinigkeiten, die den Moment der völligen Freiheit perfekt machten. Denn das war Freiheit für mich. Für andere mag dieses Wort ja andere Bedeutungen haben, doch diese acht Buchstaben bestimmten mein Leben. Ein Leben zusammen mit Jovito, dem jungen Andalusierhengst. Und mal wieder wurde mir bewusst, dass es nicht selbstverständlich war, was ich hier machte. Es war eine lange Kette an Glück und Schicksal gewesen, die mich hierhin geführt hatte. Mein letzter Sommer...

Noch während meine Gedanken abschweiften und die Endorphine sich bis in meine Zehenspitzen ausbreiteten, kamen wir dem Ende der Galoppstrecke immer näher. Das größte Glück währte bekanntlich nie lange.

Am Ende des Feldes parierte Vito wieder selbstständig durch und drehte sich fragend nach mir um. Seine Flanken bebten und sein heißer Atem bließ kleine Wölkchen in die kühle Winterluft. Der Glanz in seinen Augen bewieß, mein Falbe war wieder da. Lächelnd umarmte ich ihn. "Du bist der Beste.", murmelte ich in sein Fell und langsam drehte er wieder um, um sich auf den Rückweg zu machen. Für den Rückweg brauchten wir nahezu eine halbe Stunde im langsamen Schritt, während wir im Renngalopp nur 10 Minuten benötigt hatte. Doch mir machte das nichts aus. Es wurde sogar schon langsam dunkel, doch ich genoss diesen kurzen Ausritt nur noch mehr.

Am Abend brachte ich Vito wieder zurück in seine Box und verwöhnte ihn mit ein paar Karotten, die ich in der Sattelkammer fand. Und um noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, putzte ich ihn noch ordentlich. Auch wenn es eigentlich nicht notwendig war, doch ich hatte mein Pferd zu sehr vermisst. Und auch er genoss diese Zeit mit mir.

"Weiß du, Hanna. Am Anfang hat Mario sich gar nicht wirklich getraut, sich auf mich draufzusetzten.", fing Vito irgendwann an zu erzählen. Schmunzelnd unterbrach ich kurz meine Arbeit, um ihn anzusehen. "Und wieso?" "Keine Ahnung.", meinte mein Hengst belustigt, "Aber er hatte in den ersten paar Tagen nur Bodenarbeit mit mir gemacht und mich überwiegend auf der Weide gelassen. Wahrscheinlich hatte er dir nicht vertraut. Dir nicht zugetraut, dass du ein Jungpferd, wie mich, innerhalb eines Sommers komplett zureiten kannst." "Das hätte ich mir auch nicht... Wenn ich normal wäre.", gab ich zurück. "Du musst nicht normal sein.", setzte mein Partner an, "Du kannst noch so verrückt sein, ich liebe dich, wie du bist und daran kann niemand etwas ändern. Und für mich bist du vollkommen in Ordnung, wie du bist. Du bist meine zweite Hälfte, kleines Mädchen." Liebevoll berührte er meine Schulter mit seiner Nase und ich ließ die Bürste fallen, um ihn umarmen zu können. "Jede Sekunde ohne dich war ziemlich schmerzvoll, weißt du das?", hauchte ich gegen seine Stirn und kraulte ihn hinter den Ohren. Mein Hengst schnaubte wohlig. Das liebte er. "Hab dich lieb.", nuschelte er im Rausch des Genusses. "Und du bist der größte Lichtpunkt in meinen Leben..."

"Hanna?", murmelte Vito plörtzlich, "Ist dir eigentlich aufgefallen...", er machte eine erwartungsvolle Pause. "Dass wir wie ein frisch verliebtes Paar klingen?", und brach damit in schallendes Gelächter aus. Zuerst taumelte ich erschrocken zurück, doch lachte dann ebenfalls. "Du bist der genialste Momentzerstörer dieser Erde." Grinsend drückte ich ihm noch einen Kuss auf die samtweiche Nase und machte mich dann auf den Weg zurück ins Haus.

Mario fand ich in der Küche. Er saß am Esstisch und tippte irgendetwas in sein Tablet ein. "Bist du wieder von deinem Pferd zurückgekehrt?", fragte er grinsend und ich nickte. "Ja, es tut mir Leid, aber ich brauchte diese Zeit einfach.", entschuldigte ich mich. "Es ist ok, doch morgen beginnt das Training. Nur damit du es weißt.", sein Blick glitt an mir vorbei zum Ofen. Ich folgte ihm und sah, dass irgendetwas darin aufgewärmt wurde. "Das ist der Rest des Weihnachtsessen", erklärte mein Meister, "Aber es scheint, als sei es gleich gut." Nach einem kurzen Blick an mir herunter, sah ich, dass ich mich dringend noch kurz frisch machen musste. "Das Essen ist aber gleich fertig, komm also gleich wieder.", meinte Mario, als ich die Tür öffnete, um nach oben zu gelangen. Ich nickte und verschwand kurz in meinem Zimmer, um mich aus der Reithose zu schälen und um einen frischen Pullover überzuwerfen. Anschließend ging ich noch kurz auf die Toilette und wusch mir das Gesicht und die Hände.

Etwas frischer als vorher stand ich dann wieder in der Küche. Um mich etwas nützlich zu machen, während Mario das Essen aus dem Ofen holte, füllte ich schonmal die Wasserkanne auf und deckte ein wenig den Tisch. "Lucio, Marco!", rief mein Meister noch seine Söhne zum Essen und kurz darauf hörte man Getrampel auf der Treppe. Lucio erschien als erster. "Hi.", grüßte er kurz und ließ sich an den Tisch fallen. Marco ließ sich etwas mehr Zeit. Wir saßen bereits am Tisch, als die Tür erneut aufging und ein müde aussehender, junger Mann in die Küche schlurfte. Er grummelte nur kurz zur Begrüßung, doch als er mich entdeckte, wie ich am anderen Ende des Tisches saß, hellte sich sein Gesichtsausdruck kurz auf. "Hanna!", rief er erfreut, "Ich wusste gar nicht, dass du hier bist!" Lucio brach in schallendes Gelächter aus. "Deine Aufmerksamkeitsspanne ist nicht besonders groß, Brüderchen. Das habe ich dir mindestens zehnmal gesagt." Angestrengt legte der junge Luraschi die Stirn in Falten. "Achso, stimmt ja..", murmelte er und kam zu mir um die Bises zu geben. "Schön dich mal wieder zu sehen, Hanna." "Salut, Marco.", gab ich schmunzelnd zurück.

Er schenkte mir ebenfalls ein leichtes Lächeln, ehe er sich auf seinen Platz setzte und zusah, wie Mario das Essen auf die Teller verteilte. Was genau es war, was Mario da auftischte, konnte ich nicht zuordnen, aber es war lecker. Ich tippte auf gefüllte Ente, denn es war irgendetwas mit Fleisch, das gefüllt war. Als ich nachfragte, erfuhr ich, dass es Truthahn war, gefüllt mit Kastanien.

Nach dem Essen verschwand ich schnell unter der Dusche, denn der Pferdegeruch und der Dreck des Stalls klebte immer noch an meinem Körper. Dass man da jeden Abend duschen musste, war unausweichlich. Dafür hatte ich mir extra antrainiert, nur drei Minuten für eine Dusche zu brauchen. Mit Haarewaschen waren es zwei Minuten mehr.

Anschließend lag ich noch ein Weilchen in meinem Bett, las ein paar Abschnite aus Marios Buch, welches er selbst geschrieben hatte und ein Weihnachtsgeschenk war, ehe ich mich schließlich schlafen legte und relativ bald einschlief.

Moondancer - Maître des ChevauxWo Geschichten leben. Entdecke jetzt