49. Vollkommen

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„Hanna.", ertönte eine vertraute Stimme an meinem Ohr. Jemand schüttelte mich sanft. „Hanna!" Ich blinzelte gegen das grelle Licht und sah zuerst nur die Stalldecke. Anscheinend war ich also immer noch in der Box, doch inzwischen lag die Decke wieder über meinem Körper. „Alles ok?", fragte Marco mich sofort, sobald ich die Augen geöffnet hatte. Ich blickte in seine Augen und entdeckte in ihnen die Sorge um mich. „Wie spät ist es?", wollte ich wissen, ohne auf seine Antwort einzugehen. „Elf Uhr oder so. Weiß nicht genau." „So spät schon?", ich fuhr auf und blickte entsetzt nach draußen. Und wirklich: Die Sonne stand schon weit am Himmel. „Du warst bewusstlos. Also zumindest eine Zeit lang, vor etwa einer halben Stunde ist das aber in den Schlaf gewechselt."

Mit einem Schlag war sie wieder da. Die Erinnerung mit all ihren Facetten. Stöhnen sackte ich zusammen. „Wo ist Sylvain?", brachte ich mühsam hervor. „Keine Ahnung, hat sich in Luft aufgelö-" „Wie geht es Vito?!", unterbrach ich ihn, als mir einfiel, was mit meinem Falben passiert war. Marco deutete hinter sich zu der Stall, in der Vito stand. Die Decke eng um meinen Körper gewickelt stand ich auf, durch das lange Liegen ganz benommen und mir war etwas schwindelig. „Vito?", rief ich leise in die Box hinein, als ich ihn nicht auf Anhieb erblickte. „Endlich bist du wach.", hörte ich kurz darauf seine erleichterte Stimme und auch mir fiel ein Stein vom Herzen. Ihm schien es gut zu gehen. Er lag am Boden, stand aber sofort auf, als ich an dem Gitter erschien. „Wie geht es dir?" Er seufzte. „Keine Ahnung, was genau er mir entgegen geschleudert hat, aber es war schmerzhaft und hat mich eine Weile von den Socken gehauen, aber inzwischen geht es mir wieder gut.", erklärte er. „Dann ist gut.", murmelte ich und drehte mich wieder zu Marco um. Er lehnte etwas hilflos an der Wand und folgte meinen Bewegungen mit seinem Blick. „Was ist?", wollte ich wissen, er sah so nachdenklich und besorgt aus.

„Liebst du mich?", gab er plötzlich zurück. Es klang kalt und fordern. Und es kam unerwartet Überrascht zuckte ich zurück. „Wieso zweifelst du das an?", antwortete ich sanft und kam einige Schritte auf ihn zu. „Es ist nur... Du bist ein Pferd, irgendwie... Wie soll ich damit umgehen? Und muss ich Vito als Konkurrenz sehen? Oder...", verzweifelt warf er die Arme in die Luft und senkte dann peinlich berührt den Kopf. Ich verringerte den Abstand zwischen uns. Streckte meine Hand aus und berührte sanft seinen Arm. „Ich bin immer noch ich. Ob als Moondancer oder nicht. Und nein, ich denke nicht, dass du in Hengsten eine Konkurrenz sehen musst. Ich bin kein normales Pferd, ich bin an Vollmond immer noch ein Mensch in Pferdeform." Schwach lächelte ich und strich ihm über die Schulter. „Aber ich denke, ich gehe mir erst etwas anziehen.", fügte ich noch hinzu und verließ dann den Stall in Richtung Haupthaus.

„Hanna, pass auf! Du darfst nicht. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich!" Nathalies Stimme hallte in meinem Kopf nach, während ich über den Hof lief und es fühlte sich so an, als würde sie neben mir stehen. Ich zuckte zusammen und sah mich nach ihrer Gestalt um, doch sie war nicht da. Doch ihre Präsenz fühlte sich so echt an. „Nathalie?", flüsterte ich in die Luft und hielt weiter nach ihr Ausschau, doch sie tauchte nicht mehr auf. Das unangenehme Gefühl ihrer Anwesenheit verschwand wieder. Es dauerte noch einige Sekunden, bis die Bedeutung ihrer Worte in meinem Gehirn ankam. Die Erkenntnis traf mich kalt und unbarmherzig. Ab heute sollte es vorbei sein. Doch ich hatte vorhin nichts gefühlt... War es doch nur Trugschluss? Da war nichts gewesen außer meinen üblichen Gefühlen für den Jungen.

Verwirrt den Kopf schüttelnd betrat ich schließlich das Haus, ging in mein Zimmer und legte mir endlich wieder Kleidung an. Nachdem ich jetzt einige Stunden keinen Stoff mehr am Körper gespürt hatte, fühlte es sich im ersten Moment fast ungewohnt an, doch gleich darauf umgab mich die Wärme des Pullovers und ich spürte, wie sich wieder alles in mir normalisierte. Langsam begann ich mich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Ich putzte noch meine Zähne, wusch mein Gesicht und betrat dann die Küche um meinen knurrenden Magen zu beruhigen. Mit einem Nutellabrötchen in der Hand machte ich mich direkt auf die Suche, um meine verlorenen Sachen vom vergangenen Abend einzusammeln, stellte aber fest, dass jemand schneller gewesen war als ich.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now