38. Panik

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Sylvains Atem strich kalt über meine nackte Haut am Nacken. „Ich habe einen Freund, wenn dir das entgangen ist. Also lass mich endlich los.", meinte ich und versuchte seine Arme von den Schultern zu schütteln. „Weiß ich. Und das ist mir egal." Seine Stimme klang rau und gefährlich, wie immer. Er war der typische Bad Boy und ich wusste, dass viele Mädchen auf so etwas standen. Ich hatte prinzipiell auch nichts dagegen, doch vor Sylvain hatte ich echte Angst. Denn er war, verdammt noch mal, viel stärker als ich und schrak nicht davor zurück, irgendjemanden umzubringen. Auf seinen Kommentar antwortete ich nicht mehr, sondern aß steif weiter. Irgendwann würde er mich loslassen, das hoffte ich. Und es bewahrheitete sich auch. Er ließ los, aber nur, um sich neben mich an den Tisch zu setzen. Seine schwarzen, dichten Haare hingen kreuz und quer an seinem Kopf. Das dürre, blasse Aussehen tat seinem Bad Boy Image aber nicht wirklich gut. Es war halt Sylvain. Weiche Schale, harter Kern.

„Schon schrecklich, was mit Sante passiert ist...", begann er irgendwann. Ich verschluckte mich beinahe an meinen Nudeln, musste husten und trank schnell etwas Wasser. „Woher weißt du das?", stieß ich hervor und ließ die Gabel sinken. „Och, so etwas spricht sich herum." Er grinste schief. „Genau, vor allem, weil es erst heute Morgen passiert ist. Und ich nur Mario davon erzählt habe. Ich weiß genau, dass Mario so etwas nicht herumerzählt." Sylvain zuckte mit den Schultern. „Na und? Ich weiß es halt und wollte dich trösten, falls dich das erschreckt haben sollte." „Danke. Aber ich brauche so etwas nicht. Und wenn du mir direkt unter die Nase reiben willst, dass du ihn umgebracht hast, kannst du das auch so sagen.", antwortete ich giftig. „Habe ich aber nicht. Er ist ganz normal an Altersschwäche gestorben... Es ist eben nur ein Tier, wo denkst du eigentlich hin?! Ich würde keinem Pferd etwas zuleide tun!", schoss er zurück. „Ja, das glaube ich auch. Genau. Ernsthaft, Sylvain. Du tust nie irgendjemand etwas zuleide." Meine Stimme troff vor Sarkasmus. „Kannst du mir eigentlich einmal vertrauen?", knurrte er und ich zuckte zurück. Da war er wieder. Der Magier. Kampfbereit, tötungswillig, hasserfüllt. „Nein. Und wenn du wissen willst warum, dann schau dich an. Verlangst du von mir, dass ich einer wütenden Tötungsmaschine vertraue?", gab ich kühl zurück. Woher ich auf einmal diesen Mut nahm, ihm das ins Gesicht zu sagen... Ich wusste es selbst nicht. Sauer ließ mein Gesprächspartner die Hände sinken. „Wir sehen uns Donnerstag, Moondancer.", fauchte er zornig und stand auf. Mit großen Schritten verließ er das Haus, nicht bevor noch einmal seine geballte Faust wütend gegen die Wand zu schlagen.

Mir war der Appetit vergangen. Und war nicht am Donnerstag Vollmond? Das war übermorgen. Übermorgen Abend. Ich wollte schreien. Meine Wut auf ihn, die sich mit der furchtbaren Angst vermischt hatte, einfach rausschreien. Er war fuchsteufelswild. Und das nur, weil ich ihm nicht vertraute? Ich verstand seine Vorgänge einfach nicht. Worauf wollte er mit seinem Verhalten mir gegenüber hinaus? Dass ich selbst das nicht einmal erahnen konnte, ließ mich nur noch ängstlicher werden. Was würde mich am Donnerstag erwarten? Wollte er mich auch töten? Er klang so unheimlich sauer, wahrscheinlich wollte er mich wirklich tot sehen. Was hatte Eliza gesagt? Dass Magier die gefährlichsten Wesen überhaupt waren? Vage erinnerte ich mich an das Gespräch mit ihr.

"Das ist einer der gefährlichsten Magier, die es überhaupt gibt... Unbarmherzig, gnadenlos und einfach nur Abschaum. James hat diesen Namen ein paar Mal erwähnt, als er vom schwarzen Zirkel berichtet hat. Das ist eine Art Magierelite, die allerdings schon lange nicht mehr ihre ursprüngliche Größe besitzt. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, Hexen zu jagen und umzubringen." Ob sie das auch mit Moondancer machen wollten? Ich hatte keine Ahnung, aber es machte mir unheimliche Angst. Aber Sylvain hatte so geklungen. Als ob er mich in meiner Pferdegestalt einfach erledigen wollte. Und was hatte sie noch einmal über die Energie gesagt?

„Nicht alle Magier sind böse. Aber die Meisten schon. Im Gegensatz zu dir und mir ziehen sie ihre Energie nicht aus der Umwelt, sondern aus anderen Lebewesen. Das kann bei wenig Kontrolle auch schnell mal zum Tod des angezapften Wesens führen" Ach ja, richtig. Ich vermutete sehr stark, dass er dasselbe bei Sante gemacht hatte. Aber wofür? Wozu brauchte er diese Energie? Es schien, als würde er etwas planen. Etwas, was seine eigenen Fähigkeiten so weit überschritt, dass er zusätzlich Energie brauchte. Oder ob er gar nicht mir etwas antun wollte, sondern irgendeiner anderen Person, die mir sehr wichtig war? Dieser Gedanke machte mich noch viel mehr fertig, als der Gedanke an den eigenen Tod. Vito. Marco. Marion. Vielleicht auch Nevado. Ein Leben ohne sie, diese Vorstellung quälte mich. Panisch vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Vielleicht machte ich mir auch einfach zu viele Gedanken. Vielleicht hatte er es gar nie so gemeint. Doch ich konnte nicht verhindern, wie sich ein gewaltiger Druck in meiner Brust ausbreitete. Mir fiel das Atmen immer schwerer, erste Tränen rollten über meine Wange. Verzweifelt krallte ich meine Finger in meine Haare, suchte Halt, den ich nicht fand. Da war sie wieder. Diese Vorstellung, die ich zuletzt vor einem Jahr gehabt hatte. Vito. Verletzt. Am Boden, hilfloser Ausdruck und ein Blick, der um Verzeihung bat. Ich wollte schreien, doch kein Laut drang aus meiner Kehle. Ich wollte etwas zerstören, doch kein Muskel rührte sich. Die explosive Mischung aus Trauer, Hilflosigkeit und Wut kochte immer weiter. Mir war klar, dass ich nicht in der Lage war, meine engen Freunde zu schützen. Und das zerstörte mich. Ich hatte kaum Ahnung von Magie, um gegen einen Magier anzutreten. Was machte ich überhaupt hier? Ich bin kein Mensch, ich gehöre nicht auf die Erde. In meinen Ohren rauschte es und meine Umgebung verschwamm vor meinen Augen.

„Hanna!", hörte ich erschrocken jemanden nach mir rufen. Es klang wie aus weiter Ferne. Von Schluchzern geschüttelt krallte ich meine Fingernägel tiefer in meine Kopfhaut. Dass davon Schmerz ausging, spürte ich nicht. Auch nicht, dass jemand fest seine Arme um mich schlang und sanft meinen Klammergriff von meinen Haaren löste. „Alles ist ok. Nichts ist passiert. Du bist in Ordnung. Alles wird wieder gut.", flüsterte eine Stimme sanft an meinem Ohr. Sie wiederholte sich immer wieder, während ich mich an den vertrauten Körper drückte und den gewohnten Duft einatmete. Das Rauschen in meinen Ohren wurde allmählich weniger, die Emotionen in mir kühlten wieder ab. Seine starken Arme gaben mir den Halt, den ich vorher so verzweifelt gesucht hatte. Stumm vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter und blendete alles andere aus. „Ganz ruhig, alles ist in Ordnung.", wiederholte seine Stimme an meinem Ohr. Ganz langsam kam ich wieder zur Ruhe. Innerlich noch ein wenig aufgewühlt, aber äußerlich abgekühlt. „Danke.", murmelte ich an Marcos Schulter und machte keine Anstalten, loszulassen. „Für dich immer, ma Belle.", gab er liebevoll zurück. „Du hattest eine Panikattacke, oder?" Ahnungslos zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber es wurde auf einmal alles zu viel.", brachte ich hervor und genoss, wie er weiterhin beruhigend über meinen Rücken strich. „Aber jetzt ist alles wieder gut. Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da.", wiederholte er seinen Worte von vorhin.

„Das weiß ich. Und das zu wissen tut gut.", antwortete ich leise und schätzte, dass er nicht nachfragte, warum es so war, sondern es einfach hinnahm. Ich liebte ihn wahrhaftig. Vielleicht mehr als ich sollte, doch das war mir egal. Irgendwann schob ich meinen Freund von mir und senkte den Blick, in der Hoffnung, er würde mein fertiges Aussehen nicht bemerken. Ich konnte ahnen, dass ich garantiert total am Boden zerstört aussah. „Ich denke, ich muss auch langsam wieder an die Arbeit.", entschuldigte ich mich leise und stand schwankend von meinem Stuhl auf. Meine Kraft war mit der Panikattacke gegangen. Jeder Schritt schien unglaublich schwer, doch ich kämpfte mich mühevoll voran, räumte meine Sachen auf und hoffte, man würde mir meine Schlappheit nicht ansehen. Auch Marco erhob sich von seiner gebückten Position und streckte sich. Seine blauen Augen folgten jeder meiner Bewegungen.

„Wenn es dir nicht gut geht... Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst?", brachte er den Standartspruch. Stumm nickte ich. „Danke... nochmal.", flüsterte, als ich an ihm vorbeilief. Niedergeschlagen. Nachwirkungen des Ausbruchs von vorhin. Seine Hand an meiner Schulter hielt mich auf. „Ich meine das ernst, Hanna. Rede einfach mit mir, du kannst mir ver-", bevor er den Satz zuende brachte, legte ich ihm die Zeigefinger auf die Lippen, um ihn zum Verstummen zu bringen. „Sag das bitte nicht. Ich habe diesen Satz schon einmal heute gehört und ich brauche das nicht noch einmal. Sylvain war hier.", erklärte ich knapp. Der Blick meines Gegenübers verfinsterte sich. „Ich bringe ihn irgendwann noch persönlich um. Er tut dir eindeutig Dinge an, die du nicht willst...", schlussfolgerte er knurrend. Doch wieder unterbrach ich ihn. „Es ist ok, ich kann damit leben. Aber bitte, gib mir etwas Zeit zum Nachdenken.", bat ich noch, dann legte ich meine Lippen auf seine und vertiefte sie in einen kurzen Kuss. „Ich will nicht, dass dir etwas passiert.", hauchte ich gegen seinen Mund und drehte mich um, um eilig das Haus zu verlassen. Die Arbeit rief und umso schneller ich damit fertig war, desto besser. Marco sah mir einige Momente noch nach, dann wandte er sich ebenfalls ab und tat das, wofür er gekommen war: Essen. Ich jedoch suchte noch kurz nach den Energieströmen, um mit etwas Energie aus der Erde meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen und nicht mehr so fertig auszusehen. Und dann war wieder alles so wie vorher. Als wäre Sylvain niemals in der Küche aufgetaucht. Das Einzige, was blieb, war das beklemmende Gefühl in meinem Brustkorb. Und das Gefühl, einige große Fehler in meinem Leben begangen zu haben.

Moondancer - Maître des ChevauxTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon