41 · 𝐒𝐞𝐥𝐛𝐬𝐭𝐡𝐚𝐬𝐬

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𝐖𝐄𝐍𝐍 ich früher als Kind etwas Dummes angestellt hatte und in einem heftigen Streit mit meiner Mutter auseinander gegangen war, hatte ich mich schmollend in mein Zimmer verzogen und angefangen ein Bild zu malen. Dann hatte ich „Es tut mir leid" darauf geschrieben und es unter der Wohnzimmertür hindurchgeschoben. Mutter hatte das Bild dann zu den unzähligen anderen gelegt und alles war wieder in Ordnung.

Bei Rick würde mir ein gemaltes Bild nicht helfen. Auch kein „Es tut mir leid". Gar nichts würde helfen. Wie sollte man den Tod einer geliebten Person auch wieder gut machen können?

Das war das Unmögliche.

Ich wollte ihm nur so gerne zeigen, wie sehr ich es bereute, wie leid es mir tat und wie sehr ich mich selbst dafür hasste. Doch alles, was ich tun konnte, war zu schweigen und zuzulassen, dass mich das schlechte Gewissen innerlich zerfraß.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging wieder ins Haus hinein. Ließ ihn allein mit seinen Gedanken, die er sowieso nicht mit mir teilte. Ich lenkte mich ab, indem ich begann das Haus in Ordnung zu bringen.

In einem schmalen Wandschrank fand ich einen Besen und Staubwedel. Zuhause hatte ich nie putzen müssen, doch Dank Rose hatte ich schnell gelernt mit den Putzutensilien richtig und am effektivsten umzugehen. Es war wie ein Tritt in den Magen, als ich daran dachte. Schnell schüttelte ich den Kopf, um meine Gedanken zu vertreiben.

In der Küche stand ein kleines Radio und ich freute mich darauf, durch Musik ein wenig meine Sorgen zu vergessen, doch als ich es anschaltete drang nur ein kratziges Rauschen und Dröhnen hervor. Ich schaltete es wieder ab.

Das Putzen dauerte lange. Die Sonne war schon komplett aufgegangen, als ich eine Pause machte und wieder auf die Terrasse hinaustrat. Rick saß noch immer auf derselben Stelle, doch sein Kopf lag auf seinen Knien. Er schlief.

Ich entschloss mich dazu, ihn schlafen zu lassen und suchte eine alte Wolldecke aus dem Schlafzimmer heraus, die ich ihm um die Schultern legte. Das Wetter wurde zwar stetig angenehmer, doch der Wind war noch immer eisig kalt, vor allem hier auf dem Land.

Dann kramte ich in den Küchenschränken nach etwas Essbarem. Das einzige, was ich fand, waren stapelweise Dosenpfirsische. Besser als nichts. 

Obwohl ich keinen Hunger hatte oder sonderlich großen Appetit, verschlang ich eine ganze Dose, einfach, um etwas zutun zu haben. Ich wünschte mir so sehr, dass Rick bald aufwachte und ins Haus kam. Ich wollte nicht mit meinen Gedanken alleine sein. Ich hatte Angst vor ihnen. Vor den Vorwürfen, dem Selbsthass.

Irgendwann kam er tatsächlich herein, das es draußen zu regnen angefangen hatte, und ließ sich auf den alten Stuhl gegenüber von mir fallen. Seine Haut war noch blasser als sonst, seine Augen waren gerötet und sein Blick war seltsam leer. Als würde vor mir nicht er sitzen, sondern nur eine emotionslose Hülle seiner Selbst. Kleine Wassertropfen fielen von seinen Haaren auf seine Wangen und sein Shirt.

„Willst du Pfirsiche?", fragte ich zaghaft und schob ihm eine Dose herüber, „Wir haben nichts anderes da ..."

Er schüttelte den Kopf und daraufhin herrschte für eine Weile Schweigen. Zuerst klopfte der Regen nur sachte und weich gegen die schmutzigen Fensterscheiben, doch im Laufe der Zeit wurde daraus ein stetiges Prasseln.
Ich ertrug sein Schweigen nicht mehr.

„Was machen wir jetzt?"

Träge hob er den Kopf und richtete seinen leeren Blick auf mich.

„Was tun wir jetzt? Wo sollen wir hin?", wollte ich wissen.

„Wir?" Ricks Mundwinkel hob sich, doch es war kein freundliches Lächeln, sondern höhnisch und kalt. „Es gibt kein wir, Ella. Ich werde nachhause gehen und was du machst ist mir egal."

Ich starrte ihn an. „Du willst dahin zurück? Das geht nicht, du kannst nicht -"

„Sag mir nicht, was ich kann oder nicht kann." Rick fuhr sich durch die feuchten Haare und wandte seinen Blick ab. „Ich muss zurück."

„Aber die Todesser werden dort sicher auf uns warten!"

„Falsch. Sie werden auf dich warten, nicht auf mich. Wie schon gesagt: Es gibt weder ein wir noch ein uns, verstanden?", fuhr er mich an und sein Blick war so wütend, dass ich eine Gänsehaut bekam.

Ich senkte den Blick auf meine Hände, die an der mottenzerfressenen Tischdecke herumnestelten. „Verstanden", sagte ich leise. Es war vollkommen nachvollziehbar, dass er nichts von mir wissen wollte und nichts mehr mit mir zutun haben wollte. Mir würde es genauso gehen, doch leider musste ich den Rest meines Lebens mit mir verbringen und konnte nicht weglaufen.

Ich hob wieder den Kopf und suchte seine Augen. „Ich weiß, dass du mich jetzt abgrundtief hassen musst und glaube mir, ich tue das auch. Es ... es tut mir so leid, Rick. Ich hätte niemals gedacht, dass sie mich bei euch finden würden, ich wollte euch nie in Gefahr bringen. Meine Taten sind unverzeihlich."

„Ich hasse dich nicht", sagte er nach einer Weile des Schweigens, doch er sah mich nicht an, „Ich hasse mich selbst. Und bin gleichzeitig unheimlich wütend auf dich. Doch ich hasse dich nicht."
Jetzt sah er genau in meine Augen. „Du bist schließlich noch ein Kind, nicht mal siebzehn. Kinder wissen nicht, was sie tun."

Es tat weh, dass er so herablassend mit mir redete, doch im Grunde hatte er recht. Ich wusste nicht was ich tat, hatte es noch nie gewusst. „Warum hasst du dich? Du hast doch gar nichts getan", fragte ich nach, ohne auf seine Beleidigung einzugehen.

Verkrampft fuhr er sich übers Gesicht. „Das ist es ja. Ich habe nichts getan. Ich habe mich versteckt, wie ein Feigling. Nicht nur du hast Fehler gemacht."

Zaghaft streckte ich meine Hand nach seiner aus und er ließ es zu, vielleicht merkte er es auch gar nicht. Sie war eiskalt. „Du hättest nichts tun können ... Sie wissen von Flüchen, von denen andere nicht einmal gehört haben. Glaube mir, ich rede aus Erfahrung", versuchte ich ihm das schlechte Gewissen zu nehmen, „Rose hätte das sicher nicht gewollt, sie hätte dich angefleht dich zu verstecken. Du hast das Richtige getan."

Er gab keine Antwort, doch sein Kopf schüttelte sich leicht, als würde er das alles nicht hören wollen. Plötzlich zog er seine Hand weg, fuhr sich über den Drei-Tage-Bart und erhob sich. „Wie auch immer. So oder so muss ich zurück."

„Wieso?"

„Ich kann sie nicht einfach dort liegen lassen." Mit diesen Worten warf er mir noch ein kurzen Blick zu, ehe er disapparierte.

*

𝐚𝐛𝐨𝐮𝐭 𝐛𝐨𝐚𝐬𝐭 & 𝐛𝐞𝐭𝐫𝐚𝐲𝐚𝐥 | 𝐑𝐮𝐦𝐭𝐫𝐞𝐢𝐛𝐞𝐫 Where stories live. Discover now