Erschütternde Wahrheit

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Nemesis versuchte die Buchstaben so gut es ging abzuschreiben. Brie hatte unglaublich viel Geduld mit ihm und seinen kläglichen Versuchen zu schreiben. Er hatte sogar schon eine Feder zerbrochen.
Immerhin seinen Namen schreiben konnte er nun, zwar recht krakelig aber er konnte es.

,,Was tust du wenn du denen Vater gefunden hast?", Brie räumte die Schriftrollen und Bücher zurück in die Regale und setzte sich dann zu ihm.
Die Frage hatte er sich auch bereits unzählige Male gestellt. Er würde Serafyn nicht verlassen, und jetzt, wo sie beide Nachwuchs bekommen würden schon gar nicht. Aber genauso wenig wollte er die Chance seine Eltern kennenzulernen verspielen.
,,Ich weiß es nicht. Ich hoffe nur, dass ich nicht vor die Wahl zwischen Serafyn und meinen Eltern gestellt werde.", gestand er leise und knabberte auf seiner Unterlippe.

,,Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden würden. Mach dir keinen Kopf, Nem."

Als die kleine Gruppe an Drachen im Hof landete, war er so schnell durch die Gänge gerannt wie noch nie. Er konnte es kaum erwarten endlich etwas über seine Eltern zu erfahren! Als Serafyn ihn bemerkte schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht des Drachen.
,,Und? Habt ihr etwas herausgefunden?", er verbarg seine Aufregung erst gar nicht, aus dem einfachen Grund, dass er sowieso daran gescheitert wäre.
,,Ja, haben wir. Aber dafür gehen wir auf unsere Gemächer, ja?"

Serafyn hatte darauf bestanden, erst ein Bad zu nehmen. Nemesis saß auf dem Bett und starrte auf den Brief in seinen Händen. Das einzige, das er lesen konnte, war sein Name. Mehr nicht. Die restlichen Zeichen und Buchstaben bildeten für ihn bloß eine Reihe an verwirrender Schnörkel, die er nicht lesen konnte.
Das Papier war alt und vergilbt. Teils war die Tinte auch schon ein wenig verlaufen, bloß an kleinen Stellen. Sera hatte ihm nur gesagt, dass der Brief von seiner leiblichen Mutter war, weiter nichts.

,,Und? Kennst du ihn schon auswendig?", scherzte Serafyn schmunzelnd, als er aus dem Badezimmer kam. Er trug bloß eine Stoffhose, weshalb Nemesis den blauen Fleck an seiner Schulter sehen konnte. Nem ignorierte die Stichelei und legte fragend den Kopf schief.
,,Was ist da passiert?", der Wyvern stand auf und lief auf den anderen zu. Sie waren doch nicht etwa angegriffen worden, oder?
,,Ich bin bloß ausgerutscht. Keine Sorge.", winkte Sera ab und hob ihn hoch. Dabei verzog er leicht das Gesicht und schnaubte, ehe er fortfuhr: ,,Jetzt haben wir wichtigeres zu tun."

Serafyn trug ihn zurück zum Bett und legte ihn vorsichtig auf die Matratze. Unaufgefordert rutsche Nemesis zur Seite, sodass der Drache neben ihm Platz hatte und reicht den Brief weiter.
,,Liest du ihn mir vor?"
,,Natürlich.", Sera nahm den Brief an sich und zog ihn auf seinen Schoß, sodass Nem nun zwischen seinen Beinen und auf seiner Brust lag. Die Wärme des anderen war so angenehm und beruhigend. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zu getan. Die Abwesenheit des anderen hatte ihn wachgehalten. Umso mehr genoss er nun die Nähe zu dem Drachen und schmiegte sich an den warmen Körper.

,,Na gut, also dann...

Mein kleiner Nemesis,

Ich bedauere, dass du bloß einen Brief von mir bekommst und niemals die Liebe deiner Mutter zu spüren bekommen wirst. Liebend gerne hätte ich dir dabei zugesehen, wie du aufwächst und das Laufen lernst. Ich hätte dir gerne dabei zugesehen, wie dein Vater dir das Fliegen beibringt. Leider wurde mir das alles verwehrt. Der Krieg ist zwar schon seit Jahren vorbei, dennoch sehnen sich die Drachen noch immer nach Rache an uns. Severin, dein Vater, weiß vermutlich nicht einmal von deiner Existenz. Er wird glauben, du seist mit mir gemeinsam gestorben, aber das heißt nicht, dass er dich nicht kennenlernen wollen wird. Dein Vater hat sich so unendlich sehr gefreut, als wir von dir erfuhren. Wir haben uns eine Zukunft als Familie in Frieden und Ruhe ausgemalt, ohne Furcht oder Krieg. Ich habe mich wie die glücklichste Frau der Welt gefühlt, als ich dich in meinen Armen halten durfte, auch wenn es nur für eine kurze Zeit war. In dir habe ich Hoffnung gesehen, ich habe es mir so für dich und deinen Vater gewünscht. Auch wenn ich diese Momente nicht mehr erleben werde, hoffe ich, dass ihr zueinander finden werdet. Er hat nach mir, nach uns, gesucht, vielleicht hat er dich ja bereits gefunden.
Ich habe dich einer Frau überlassen, die bereit war alles zu riskieren um dich zu beschützen. Vielleicht war es ja Schicksal, dass wir uns begegnet sind. Sie verlor ihr Kind und du verlorst deine Mutter. Wenn du diesen Brief liest, bin ich schon viel zu lange nicht mehr unter den Lebenden. Ich hatte immer große Angst davor, zu sterben, ohne etwas zu hinterlassen. Aber als du in meinen Armen lagst, da wusste ich, dass ich meinen Zweck erfüllt hatte. In dir habe ich Hoffnung gesehen, auf Veränderung, auf Freiheit für unsere Art. Du warst das wertvollste Geschenk, das mir jemals gemacht wurde. Nur eine einzige Sekunde reichte für mich, um zu wissen, dass ich jedes Mal aufs Neue für dich gestorben wäre.

Es tut mir leid, dass dieser Brief das einzige ist, das dir von mir bleibt. Auch wenn er dir nicht viel bringen wird, habe ich doc noch ein paar wichtige Dinge zu sagen, die dir helfen werden, denen Vater ausfindig zu machen. Die Wyvern haben sich nach unserer Befreiung sehr weit zurück in den Norden gezogen. Es gibt dort ein Gebirge, die Mondspitzen, sie bilden einen Kreis herum um ein wunderschönes Tal, in dem wir uns niederlassen wollten. Ein Leben dort wurde mir verwehrt, darum möchte ich umso mehr, dass du dort dein Leben verbringen kannst. Jene Wyvern die überlebten und geflohen waren, wirst du dort finden. Auch deinen Vater.

Ich hoffe ihr beide findet einander und könnt auch ohne mich eine glückliche Familie sein.

Deine dich über alles liebende Mutter.

...der Brief endet hier, Nem.", Serafyn faltete den Brief zusammen und legte ihn auf das Bett. Nemesis schluckte das Schluchzen in seinem Hals hinunter und versuchte tief durchzuatmen. Die Tränen, die stumm über seine Wangen liefen spürte er schon gar nicht mehr. Etwas tief in ihm, die Hoffnung und Freude, brach in seiner Brust zusammen und hinterließ einen seltsamen Schmerz.
Serafyn schlang seine Arme um ihn und drückte ihn an sich.

,,Ich...ich wünschte es wäre anders, kleine Eidechse. Auch wenn deine Mutter nicht mehr unter uns ist, wird sie sich sicher freuen, wenn du deinen Vater findest. Das scheint ihr größter Wunsch gewesen zu sein.", Serafyn strich über seine Wange und wischte mit seinem Finger die Spuren der Tränen fort.
Was wenn sein Vater auch nicht mehr lebte? Was wenn alles umsonst war und er am Ende nur traurig dastand.

,,Ich will nicht mehr nach ihm suchen."
Die Worte schienen Serafyn sehr zu überraschen. Er spürte wie die Muskeln des Drachen zuckten, als er den Kopf schief legte und ihn etwas von sich drückte, um ihn ansehen zu können.
,,Aber wieso?"
,,Wenn er auch tot ist, dann war alles umsonst. Lieber lebe ich in Unwissenheit darüber und behalte meine Hoffnungen. Vielleicht ist es besser so.", erklärte er leise und lehnte sich wieder an Serafyns Brust, welcher schwieg und bloß seine Arme um ihn schlang.
Vielleicht hätte er nie nach der Wahrheit suchen sollen.

Serafyn:

Er konnte kaum glauben, was Nemesis da sagte. Der Wyvern war doch so sehr darin vernarrt seine Eltern zu finden, und jetzt? Er verstand nicht, wie Nem nun so einfach aufgeben konnte. Sein Vater konnte doch noch immer irgendwo da draußen sein. Wenn er und die restlichen geflohenen Wyvern tatsächlich dorthin gegangen waren, wie Faeya es in dem Brief geschrieben hatte, dann wusste mit Sicherheit niemand von diesem Ort und sein Vater lebte. Immerhin hatte man seit dem Krieg nichts mehr von einem weißen Wyvern gehört, bis Nemesis eben aufgetaucht war. Vielleicht wusste sein Vater ja bereits von ihm...

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