-chapter 33-

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Aidens Sicht:

Ein Monat und drei Tage. Die Zeit verflog und zog sich gleichzeitig so lange hin. Ich verließ mein Zimmer gar nicht mehr, weil ich ansonsten nur die Gespräche zwischen meinem Dad und meiner Mom hörte. Sie sprachen über sie. Über meine Sydney.
Soweit ich es mitbekommen habe, hatten mein Dad und die Polizei schon zwei Motels ausfindig gemacht, in denen sie übernachtet hatte. Danach gab es keine Spur mehr von ihr.
In den Spiegel schaute ich schon gar nicht mehr. Ich war ein Schatten meiner Selbst. Was wäre, wenn sie es wirklich ernst meinte und einfach alleine durchgebrannt war...? Aber so war sie nicht. Wenn Sydney das gemacht hatte, habe ich damals die falsche Sydney auf dem Balkon kennengelernt.

„Aid?" Haylie kam vorsichtig in mein Zimmer rein. „Dein Freund, Jackson, steht vor der Tür. Er... er hat gefragt, ob du mit ihm und den anderen raus gehen möchtest. Du weißt schon, bisschen Füße vertreten." Ich schaute langsam von meinen Schulaufgaben hoch und guckte in ihre mitleidigen Augen. „Ich habe noch einen Haufen an Schulaufgaben zu tun", antwortete ich. Sie kam langsam aus dem Türrahmen in mein Zimmer und schloss leise meine Tür hinter sich. „Ich weiß, dass das alles schwer für dich ist", sie kam zu mir und legte ihre Hände auf meine Schultern „aber du musst wirklich raus gehen. Du gehst zur Schule - alleine - und mehr machst du nicht. Ich will dich zu nichts zwingen, aber denkst du nicht, dass du ein wenig Ablenkung gebrauchen kannst?" Ich nahm ihre Hände von meinen Schultern und widmete mich wieder den Aufgaben. „Ich muss das bis morgen fertig haben", sagte ich und ging auf ihre Aussage nicht ein. Sie entgegnete nichts mehr und verließ mein Zimmer wieder. Ich atmete tief ein und aus. Nun saß ich einfach da und tat nichts, außer auf meine Aufgaben zu gucken, die ich eh nicht machte. Ich verstand sowieso nichts mehr. In der Schule existierte ich nur noch. Den Schulstoff bekam ich nicht mehr mit. Eigentlich bekam ich gar nichts mehr aus meinem Umfeld mit. Weder was meine Freunde taten, noch was bei ihren Freunden abging. Vermissten sie sie? Wie ging es ihnen in der Situation eigentlich? Wussten sie alle, dass sie verschwunden ist? Konnte mir bitte jemand sagen, dass es ihr gut ging? Dass sie alleine in Sicherheit war und uns alle einfach nur verlassen hatte? Damit käme ich besser klar, als mit dem Gedanken, dass Sydney in Gefahr war. Ich hörte in meinen Träumen ihre Schreie, obwohl es nicht sicher war, dass sie wirklich in Schwierigkeiten ist. Mein Gefühl sagte mir einfach, dass etwas passiert und sie nicht einfach so verschwunden war.
Ich vermisste sie.

Sydneys Sicht:

Der nächste Tag. Der nächste. Und wieder der nächste.
Die nächste Woche. Die nächste. Und wieder die nächste.
Es musste ungefähr ein Monat sein. Ein Monat in diesem Loch. Er hatte mich soweit gebrochen, dass ich alle seine Fragen so beantwortete, dass er damit zufrieden war.

„Liebst du mich Sydney?"
...
„Ja."

Er wusste, dass ich log, aber das war eine seiner Arten mir zu schaden. Er brachte mich zum Lügen, obwohl er die Wahrheit wusste. Für ihn war das ein Triumph. Er meinte, wenn ich die Wahrheit sagen würde, dann bestrafe er mich. Sein Gedankenweg war nicht zu verstehen.

„Guten Morgen", sagte er gut gelaunt. Er lief auf mich zu und machte die Seile von dem Ring ab. Ich hatte selber versucht sie aus dem Ring zu kriegen, aber er war sehr weit oben, fast auf der Höhe der Decke. Selbst mit Springen kam ich nicht ran. Jaxon hingegen brauchte sich nur ein wenig zu strecken. Ich verfluchte meine kurzen Beine.
„Kriege ich kein Guten Morgen?", fragte er gespielt schmollend. „Guten Morgen", flüsterte ich schwach. „Wie wäre es mit einem schönen Spaziergang?" „Gerne." Meine Stimme klang so, als käme sie von einem anderen Menschen. Das war nicht meine Stimme.
Ihn störte aber nichts. Er nahm die Seile in seine Hand und ging mit mir in der Hand durch die Halle. Wir steuerten auf eine große Tür zu. Er öffnete sie und ich sah zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder das Licht. Es blendete mich und ich musste meine Augen zusammenkneifen. Kühler Wind peitschte mir in mein Gesicht und durch meine Haare.
„Warum nimmst du mich mit raus?" Er legte seinen Kopf in den Nacken und guckte hoch in den von Wolken bedeckten Himmel. „Ich bin kein schlechter Mensch." War das gerade sein Ernst? Sagte er mir gerade wirklich, dass er kein schlechter Mensch wäre? Dieser Mann, nein, dieser Junge war komplett irre. „Denkst du etwa, dass ich ein schlechter Mensch bin?", fragte er mich mit vollem Ernst. Ich runzelte meine Stirn und schaute herab auf meine Füße. „Ich möchte dir eine Frage stellen Sydney... Stelle dir einen Vater vor. Dieser Vater liebt seine Tochter über alles und jeden. Jetzt erfährt er, dass ein Mann seine Tochter misshandelt hat. Er tötet ihn aus Liebe zu seiner Tochter. Ist der Vater nun ein schlechter Mensch?" Nein. Aber Jaxon war es. Man konnte ihn auf keiner Weise mit diesem Vater vergleichen, oder?
„Du gehörst mir Sydney. Und nur mir alleine. Wehre dich dagegen und es sieht übel für dich aus. Ich will dich doch nur vor der Welt da draußen schützen."
Vor der Welt? Er wollte mich vor der Welt beschützen? Er müsste mich vor sich selber schützen. In meinem Leben war er das Schlimmste und Gefährlichste. Vor was wollte er mich beschützen, wenn er mich mit jeder seiner Bewegungen in Lebensgefahr steckte?
Sein Vergleich machte keinen Sinn. Er war kein guter Mensch. Er war ein schlechter Mensch. Meine Frage war nur, warum war er es? Menschen werden nicht als schlechte Menschen geboren. Seine Geschichte musste tiefer gehen. Vielleicht hatte er auch ein Kindheitstrauma... vielleicht mit seinen Eltern?
„Jaxon?" „Hm?" „Wie stehst du zu deiner Familie?"
Schon nachdem ich die Frage gestellt hatte, wusste ich, dass es ein Fehler. Ich hatte genau ins Schwarze getroffen...
Seine Haltung versteifte sich und er ballte seine Hände zu Fäusten. Ich hörte aber nicht auf mit den Fragen, was ein noch dümmerer Fehler war. „Was glaubst du, würde deine Mom von dir denken, wenn sie wüsste, was du jetzt machst? Und dein Dad? Glaubst du er wäre enttäuscht?"
Stille.
Man sah von außen sehr gut, wie er mit sich selber rang. Langsam wendete er seinen Kopf zu mir. Seine Augen strahlten Hass, Wut, aber auch Angst aus.
Im nächsten Moment spürte ich einen heißen Schmerz auf meiner Wange und den Boden unter meinem Körper. Über mir war Jaxon, der schon halb auf mir lag. Seine Hand quetschte meine Wangen zusammen und ließ mich zur Seite gucken. „Das haben sie mit mir gemacht!", brüllte er in meine Ohren.
Die nächsten fünf Minuten ging das so weiter. Er brüllte und schrie weiter in mein Ohr.
Dann war es wieder still.
„Aber natürlich. Meine Familie liebt mich. Sie sind stolz auf mich. Sie haben mich genau zu dem Mann erzogen, der ich jetzt bin." Er stand auf und ich sah im Augenwinkel, wie er seine Haare richtete.
„Das haben sie mit mir gemacht."
Er wurde selber misshandelt. Wie sollte ich ihm jetzt etwas verübeln? Zum Einen hasste ich ihn über alles und würde ihm den Tod wünschen, zum Anderen dachte er wohl, dass Brutalität ein Ausdruck der Liebe wäre. Jetzt wünschte ich ihm eher eine Therapie. Anscheinend kannte er es einfach nicht anders.
Die Frage, ob er nun ein guter oder schlechter Mensch war, ließ ich offen. Darüber brauchte ich mir keine Gedanken machen. Ich musste ihn einfach nur los werden. Ich musste weg von hier und dafür sorgen, dass er irgendwo hinkommt, wo er entweder Hilfe bekommt oder abgeschottet von Menschen ist, denen er schadete.

The fear of loveWhere stories live. Discover now