-chapter 36-

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Grelles weißes Licht.

Mein Bruder, mein Dad, meine Mom.
Mason rennt mit mir auf den Schultern durch den Garten. Ich gackere mit meiner kindlichen Stimme und kralle mit mit meinen kleinen Fingern in Masons lockige Haare. Meine Mom steht am Gartenzaun und plaudert fröhlich mit der Nachbarin. Mein Dad guckt aus der Schiebetür heraus - eine Schürze umgewickelt und Backhandschuhe über seine eigenen Hände. „Es gibt Kuchen!", ruft er uns zu. Mason rennt sofort zum Tisch, hebt mich von seinen Schultern und setzt mich in meinen Stuhl. Ich lache so stark, dass ich Bauchschmerzen bekomme, als mich Mason kitzelt. Dann kommt mein Dad mit einem riesigen Geburtstagskuchen aus dem Haus und stellt ihn auf den Gartentisch. Er gibt mir mir einen Kuss auf meinen Kopf und setzt sich danach auf seinen Platz. Meine Mom kommt auch und zündet die Kerzen an. Ich grinse die ganze Zeit und wackle glücklich mit meinen Beinen, die über dem Boden baumeln.
„Alles Gute zu deinem 10ten Geburtstag, Schatz."

————

Laute Musik, ein gewaltiger Bass, das Konzert. Das Konzert. Mein 15ter Geburtstag. Der Autounfall. Wir dürfen auf keinen Fall in das Auto steigen!
Ich gucke nach rechts und sehe Mason neben mir stehen. Er singt laut den Song mit. Ich möchte ihn warnen, doch ich kann meinen Körper und Kopf nicht kontrollieren. Ich tanze einfach zur Musik weiter und singe, so wie Mason auch, den Song laut mit. Es ist der letzte...

Ich sitze im Auto. Neben mir Mason und hinter dem Steuer mein Dad. „Fahr nicht los!", will ich schreien, aber ich erzähle ihm nur, wie das Konzert war. Mein Dad lacht und fährt los. Lächelnd lehne ich mich in meinem Sitz zurück und schaue aus dem Fenster.
Knall.
Der Zusammenstoß.
Mein Dad... Mason.

————

Jaxon. Schmerz. Blut. Gebrüll.
„Du bist nichts wert, gar nichts! Nichtmal meine Schläge verdienst du. Jetzt beeile dich!"
Er läuft aus dem Raum raus, in sein Auto. Ich rapple mich auf, schaue in den Spiegel und stürme hoch ins Badezimmer, um mein verwundetes Gesicht abzudecken. Als man das Blau nicht mehr durchschimmern sieht, laufe ich runter und schnappe mir meine Schultasche. Wir fahren in die Schule. Ich habe keine Freunde dort. Mein Bruder ist tot. Und wenn mich jemand anguckt, dann nur mitleidig.
Jaxon legt seine Hand besitzergreifend auf meinen Oberschenkel. Für meinen Geschmack ein wenig zu hoch und ein wenig zu fest. Es würde nichts bringen, wenn ich ihm sagen würde, dass ich Schmerzen habe. Er würde es dann wahrscheinlich sogar noch stärker machen. Er liebt es die Oberhand zu haben. Ich lebe in einer toxischen Beziehung. So läuft das täglich ab. Wieso ich es nicht beende? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich habe ich zu starke Angst vor seiner Reaktion. Er könnte mir noch mehr körperlichen Schaden hinzufügen. Doch etwas Schlimmeres, als mich zu töten, gibt es doch gar nicht? Oder doch? Mein Leben ist pures Leiden, ich denke der Tod ist für mich tröstender, als das Leben...
ich möchte nicht mehr leben.
Doch ich habe es Mason versprochen. Ich darf nicht sterben.

————

Illinois.
Aiden, Haylie, Blue, Clair, Amy, Ciara.
Sie alle habe ich in mein Herz geschlossen. Ein paar mehr als die anderen, doch ich habe sie alle lieb gewonnen. Ich sitze mit meinen Freunden an einem Cafeteriatisch und höre ihnen zu, wie sie sich über die unterschiedlichsten Lehrer aufregten. Es brachte mich zum Lachen.
Mehrere Geschehnisse tauchen vor meinem Auge auf. Mehrere Gefühle durchströmen meinen Körper.
Die Liebe, die mir Aiden schenkt. Aber auch Verrat, wegen der Wette und Ciara.
Andrew. Er macht mir Angst. Er erinnert mich an eine Zeit zurück, an die ich nie wieder denken wollte.
Diese Zeit holt mich wieder ein.
Jaxon. Der Bunker. Der Wald.
Die Gewalt. Das Blut. Der Schmerz.
Die Flucht. Der Lichtpunkt. Das Auto.
Sein Blick. Seine Stimme. Seine Berührungen.
Mein... Tod?
————

Gefühle, Gedanken, mein Leben, alles zog an mir vorbei und kam auch nicht mehr zurück. Mein Kopf war leer. Ich hatte keine Erinnerungen mehr. Mein Kopf war wie leergefegt. Ich spürte weder Zeit, noch Raum. Ich existierte in einer Ebene zwischen Leben und dem Jenseits.
Wie hieß ich?
Wie alt war ich?
Wo wohnte ich?

Wer war ich?

Ich hörte jemanden in der Ferne einen Namen rufen. „Sydney!"

Wer war Sydney? War ich Sydney?

Wem gehörte die Stimme? Von wo wurde gerufen?

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Aidens Sicht:

Mein Blick war starr auf die Glastür gerichtet. Die Hand von meiner Schwester lag auf meiner rechten Schulter, die von meiner Mom auf meiner linken.
Mein Dad war an dem Fall von Sydney dran und als ich der Polizei berichtete, wo ich Syd fand, suchten sie die ganze Umgebung ab. Ihre Mutter hat sich aus dem Staub gemacht und wurde auch von der Polizei gesucht. Immerhin hatte sie mir und den Beamten mitten ins Gesicht gelogen. Sydney war nicht zu Hause. Wenn sie jetzt hier stirbt, hätte sie nicht ganz Umschuld an dem Tod ihrer Tochter.
Ich hoffte, dass sie diesen Scheißkerl gefunden haben oder ihn noch finden werden. Was er ihr angetan hatte, konnte man an ihrem kleinen Körper sehen. Diese Unschuld, die dieses Mädchen mit sich trug, machte das alles noch viel schmerzhafter. Und ich konnte nichts anderes als sie noch anzufahren! Sie ist am leben gewesen! Sie hat gelebt! Ganz alleine wegen mir könnte sie jetzt sterben. Wenn sie nicht schon längst tot war.
Ich schaute mich hilfesuchend in dem Warteraum um. Hier warteten nur weitere arme Seelen auf gute Nachrichten eines Doktors.
„Aiden, du musst was essen, Schatz." Ich schaute zu meiner Mutter und schüttelte den Kopf. „Möchtest du jetzt einen Essensstreik machen, bis du weißt, dass es ihr gut geht?", fragt jetzt Haylie. „Ich habe keinen Hunger." Ich starre wieder auf die Glastür.
Neun Stunden saß ich jetzt in diesem Raum. Ich musste der Frau an der Anmeldung unnötig und umständlich erklären, dass Sydneys Erziehungsberechtigten nicht kommen können und auch nicht kommen werden. Dabei war ich es, der mit Sydney im Rettungswagen mitgefahren ist. Mein Vater konnte es so hinbiegen, dass ich nicht sofort festgenommen wurde. Immerhin habe ich einen Menschen angefahren und bin zu schnell gefahren - mit Alkoholintus. Wie sollte ich weiterleben, wenn sie nicht in meinem Leben ist. Wenn ich Schuld daran hätte, dass sie nicht mehr am leben ist.
Gestresst und mit glasigen Augen fuhr ich mir durch meine schwitzigen Haare. Sie war noch so jung... 17 Jahre alt. Sie durfte nicht so früh sterben. Oder warte. Eine lange Zeit ist vergangen... in diesen Monaten hatte sie- sie hatte Geburtstag.
Ich fühlte mich grauenvoll. Sie hatte ihren 18ten Geburtstag in diesem Loch verbracht. Wahrscheinlich wusste sie an dem Tag nicht einmal, dass sie Geburtstag hat. Ich erinnerte mich an meinen eigenen zurück. Er war nahezu perfekt. Eben wie manche sich den 18ten Geburtstag vorstellt. Eine große Party, Freunde brachten ihre Freunde mit, das ganze Programm eben.

Von Minute zu Minute wurde ich unruhiger und war wieder kurz vor einer Panikattacke. Es wäre nicht die Erste heute. Ich konnte nicht mehr still sitzen. Schnell stand ich auf und eilte aus dem Warteraum raus zu dem WC.
Ich konnte nicht mehr unter Menschen weinen. Deshalb schloss ich mich in einer Kabine ein und ließ alles raus. Mich konnte sowieso nichts und niemand beruhigen, außer sie. Wenn ich wissen würde, dass alles gut ist und sie lebt, wären alle meine Probleme auf einmal weggespült.
„Dieser verdammte Bastard", murmelte ich blind vor Zorn und schlug meine Faust in die Wand. Ich atmete schwer ein und aus und wendete mich dem Ausgang zu. Der Geruch vom Krankenhaus und Desinfektionsmittel machte mich irre.
Zurück im Wartezimmer kam ich nicht mehr dazu mich zu setzen.
„Angehörige von Sydney Evans?", fragte ein Doktor. Ich wirbelte herum und starrte ihm direkt in die Augen - mit der Hoffnung, dass die Antwort in seinen Augen lag. Das tat sie nicht.
„Was ist mit ihr? Geht es ihr gut? Lebt sie!?", fragte Haylie. Ich war unfähig zu reden.
„Sydney Evans..."

The fear of loveWhere stories live. Discover now