27

11 0 0
                                    

„Ruhig, Lucky. Das sind Freunde.", beruhigte Muraz seinen Wolfsbegleiter. Sofort verstummte das große Tier. Der Vampir kraulte dem Wolf am Kopf. „Was machst du hier? Es schadet deinem Ruf!", fragte er Luraz, der nur mit den Schultern zuckte. Mir fiel auf, dass er auf Katoranisch sprach. Vielleicht ja, damit niemand mithören konnte. Taylor stupste mich an. „Ihre Vorfahren stammen aus einer Küstenstadt im Westen von Katakora.", wisperte er mich zu.

„Ich habe einen guten Grund hier zu sein.", entgegnete Luraz, „Das hier ist Aaron. Er ist der Auserwählte. Ein Hybridwesen." Muraz zeigte sich wenig beeindruckt. Trotzdem neigte er höflich den Kopf zum Gruß. Ich tat es ihm gleich. „Das sind Taylor und Darwin.", stellte ich meine Wächter vor, „Ich würde gerne etwas über diese Welt hier lernen." Muraz wechselte kurz einen Blick mit seinem Bruder, der ihm aufmunternd zu nickte. „Kommt. Gehen wir in die Hütte." Drinnen befreite der Vampir Lucky vom Geschirr und legte die gesammelten Blätter auf ein improvisiertes Regal aus Zweigen. Es war spartanisch eingerichtete. Ein bodennaher Tisch, der einst eine Baumwurzel gewesen war. Dazu ein paar löchrige Decken. Vermutlich als Schlafplatz. Ein paar hölzerne Schalen und Becher standen in Regalen aus Ästen. Mehr gab es nicht.

Der Wolf schüttelte sein Fell und wechselte seine Form. Ein junges Mädchen mit lagen schwarzen Haaren hockte nun auf der Decke. Sie lächelte uns neugierig an als Muraz ihr eine zerschlissene Decke über die Schulter legte.

„Ich habe keine Gäste erwartet.", sagte der Hausbesitzer beschämt, „Später kann ich Löwenzahntee zubereiten. Die Zutaten müssen jedoch noch trocknen." „Ich habe etwas mitgebracht." Luraz nahm seinen Mantel ab. Darunter verbargen sich einige Schichten Stoff. In jeder hatte er etwas anders versteckt. Wir staunten nicht schlecht. „Zum Glück haben uns die Wachen nicht kontrolliert." Luraz zauberte drei intakte Decken, verschiedenen Päckchen Samen in einer praktischen Holzbox und mehrere Metallflaschen zum Vorschein. „In diesen Flaschen ist Trockenfleisch, in den anderen beiden sind Blutviolen versteckt. Mehr konnte ich nicht reinschmuggeln. Die Decken sind aus deinem alten Haus. Sie werden Flip hoffentlich gefallen." Der Gastgeber nahm dankend die Geschenke an. Er wirkte traurig. Er vermisste wohl sein altes Zuhause und die Zivilisation. Die Wölfin legte ihren Kopf auf seinen Schoß als wollte sie ihn beruhigen.

„Wie alt ist Lucky?", erkundigte sich Darwin und durchbrach damit die aufkommende Stille. „Siebzehn. Sie wurde hier im Reservat geboren." „Und ihr Rudel?" Muraz lachte ohne Freude. „So etwas existiert hier nicht. Wir sind eine Gemeinschaft. Menschen, Werwölfe, Vampire. Hier gibt es keine Rassentrennung. Wir sind sozusagen ein Volk. Ein verstoßenes Volk." Zu Ende wurden seine Worte mehr und mehr ein zartes Flüstern. „Ihre Mutter hat bei der Geburt zu viel Blut verloren. Wir konnten ihr nicht mehr helfen. Flip und ich haben Lucky wie unsere Tochter aufgezogen. Aber sie wollte nie sprechen." Überlegend starrte Darwin die Wölfin an. „Magst du mir euer Zuhause zeigen?", schlug er ihr vor, „In unserer wahren Gestalt." Lucky blickte zu ihrem Ziehvater auf. „Wenn du möchtest." Grinsend wandelte sie sich und wenig später waren die beiden Wölfe außer Sichtweite. „Hoffentlich macht er keinen Blödsinn.", murmelte Taylor. Ich stieß ihm dafür in die Seite.

„Erzählst du uns etwas über das Reservat bis Flip dazustößt?" Ganz sachte versuchte ich die Unterhaltung anzustoßen. Doch Muraz schaute aus dem kleinen Fenster. Seine Mimik verriet kaum was er dachte. „Er wird nicht kommen.", sagte der Gastgeber mit fester Stimme. „Was? Warum?", entfuhr es seinem Bruder, „Lebt ihr nicht mehr zusammen?" „So ähnlich." Neugierig folgte ich seinem Blick. Das Fenster zeigte genau auf einen Haufen Steine.

„Er hat dich verlassen? Wie konnte er nur!" Luraz' Augen funkelten blutrot. Er verstand nicht, was sein Bruder damit sagen wollte. Stumm warf mir Taylor einen Blick zu. Er sollte sich um die Kommunikationsschwierigkeit lösen.

„Luraz. Wie alt war Flip als man die beiden verbannte?" Der Vampir überlegte kurz. „Um die dreißig." „Du sagtest, es sind nun rund fünfzig Jahre seit jenem Tag vergangen. Ein Vampir lacht über diesen kurzen Zeitraum. Aber für Menschen ist es eine halbe Ewigkeit." Am Gesichtsausdruck des älteren Vampirs erkannte man, dass er den springenden Punkt noch nicht entdeckt hatte.

„Wenn du vor ein paar Wochen gekommen wärst, hättest du ihn noch sprechen können." Muraz' Blick wandte sich nicht vom Steinhaufen ab. „Er war schon lange krank. Flip hat es geheim gehalten, es versteckt. Aber ich wusste es. Ich konnte es riechen." Er dreht seinen Kopf und blickte direkt in die Augen seines Zwillings. „Ich habe ihn so oft darum gebeten ihn verwandeln zu dürfen. Flip hat es immer abgelehnt. Er war so stolz ein Mensch zu sein." Eine Träne stahl sich aus den weinroten Augen. „Eines Morgens ist er nicht mehr aufgewacht. Lucky und ich haben drei Tage gewartet. Doch er kam nicht mehr zu sich." Mitfühlend legte ich meine Hand auf die Schulter des trauernden Vampirs. „Es tut mir sehr leid." Der Gastgeber versuchte zu lächeln. „Es waren nur sechzig Jahre. Es waren schöne Jahre. Die besten." Luraz setzte sich neben seinen Bruder und drückte ihn lange. Taylor und ich schlichen leise aus der Hütte.

Außer Hörweite setzten wir uns ins Gras. „Das muss schwer sein.", murmelte der Vampir neben mir. „Das kannst du besser beurteilen.", entgegnete ich. Mein bester Freund schwieg. Ob es eine Schmollreaktion oder um leise um Lewis zu trauerte, konnte ich nicht einschätzen.

Wenig später rannten zwei Wölfe auf uns zu. Mein Augenmaß hatte gänzlich versagt. Lucky hatte nicht ansatzweise Darwins Größe. Dennoch konnte sie locker mithalten. Die beiden tobten ausgelassen auf der Wiese herum. Schließlich legte Darwin seinen Kopf auf meinen Schoß, was Taylor missmutig hinnahm. Die junge Wölfin hingegen lief ins Haus. „Kommt. Es wird langsam dunkel.", bat Muraz uns zurück in sein Heim. Die Geschwister hatten nun wohl alles geklärt. Der große Wolf ließ sich neben Lucky auf die Decke fallen und legte wie sie seinen Kopf auf die breiten Pranken um zu schlafen. Darwin musste völlig ausgelaugt sein. Kein Wunder. Die Reise dauerte schon mehrere Monate. Mein Lieblingswolf hatte kaum Zeit gehabt sich auszupowern oder auch nur einen kleinen Auslauf zu unternehmen.


Das Leben zwischen den StühlenWhere stories live. Discover now