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Gegen Mittag wurde ich durch einen sanften Kuss geweckt. Ich schlug die Augen auf und erstarrte. Über mir leuchteten rote Pupillen.

„Taylor?" Mein bester Freund zuckte grinsend mit den Schultern. „Bei Darwin hast du einfach weitergeschlafen." Das rechtfertigte wohl kaum, dass er mich einfach küsste! Abwartend betrachtete mich der Vampir.

„Liebst du ihn?" Die Frage kam ein bisschen plötzlich. Ich zuckte ehrlich mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht." „Darwin liebt dich. Sehr sogar. Er würde sein Rudel für dich aufgeben." Dem war ich mir seit längerem bewusst. Darwin von seiner Familie zu treffen, blieb das Letzte für das ich verantwortlich gemacht werden wollte. Nicht wieder.

„Und was ist mit dir?" Der Vampir zuckte ebenfalls mit den Schultern. „Wenn ich das so genau wüsste, könnte ich dir ehrlich antworten, wieso ich dich eben geküsst habe." Unpassend knurrte mein Magen laut. „Vielleicht kommen unsere Antworten beim Frühstück.", schlug Taylor vor und reichte mir spitzbübisch die Hand. Ich zog mich an ihr hoch und folgte dem Vampir durch den Flur zur Küche.

Darwin stellte eben frisch gebackene Pancakes auf den Tisch. „Guten Morgen.", säuselte ich ihm ins Ohr. Ich hätte Freude dran gehabt, wenn er sich wenigstens ein bisschen erschreckt hätte. Doch diesen Gefallen tat er mir leider nicht.

Das Essen verlief schweigend. Vermutlich roch Darwin Taylor an mir und war gekränkt.

Meinem unfreiwilligen Urlaub zum Trotz warteten die wachsenden Stapel Arbeit auf mich. Bis spät am Abend hockte ich im Büro. Vor meiner Tür waren zwei Wachen abgestellt, die alle vier Stunden wechselten. Gähnend zog ich die nächste Akte auf meinen Tisch. Tief in meinem Unterbewusstsein wusste ich, dass ich mich nur vor meinen Freunden drückte. Ich konnte und wollte mich nicht zwischen den beiden entscheiden. Plötzlich pingte mein Smartphone. Eine Nachricht aus der „Chaostruppe", in der die WG-Bewohner geführt wurden.

Ich rollte mit den Augen. Die beiden konnten sehen, wenn ich mitlas. ‚Ich arbeite noch einen Stapel durch und mache mich dann auf den Weg.', tippte ich ein. Seufzend betrachtete ich den hohen Stapel und zog die Akte zu mir.

Kurz vor Mitternacht pingte wieder mein Smartphone. Ich zuckte erschrocken zusammen. Mein Kopf lag auf der geöffneten Mappe. Irritiert schaute ich mich um. Tatsächlich. Ich war im Büro eingepennt. Einen Seitenblick auf das leuchtende Display. Vier Nachrichten.

An meiner Tür wurde geklopft. Ein Wolf aus Logans Rudel steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Meister Aaron? Taylor und Darwin würden Euch gerne sprechen." Ich nickte nur. „Sag ihnen, dass ich gleichkomme." „Sehr wohl." Ich klappte die Akte zu und erhob mich gähnend.

Mit verschränkten Armen standen die beiden vor mir. „Nach Hause. Jetzt!", knurrte Taylor und zeigte auf die Tür. Gehorsam ging ich mit zur Wohnanlage. Auf dem kurzen Weg fiel mir erst auf wie erschöpft ich eigentlich war. „Hey. Nicht im Stehen einschlafen!" Darwin hob mich in seine Arme als ich knapp einen Laternenmast verfehlte. Ich kuschelte mich an seine Brust und schlief sofort ein.

Dieses Tagesschema ließ sich auf die nächsten Wochen übertragen. Aber mein Fluchtverhalten hatte auch etwas Gutes. Die Aktenberge begannen allmählich zu schrumpfen und ich konnte unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen. Morgen würde wieder ein Wochenende kommen an dem ich mich im Büro verschanzen konnte. Erst gestern hatte Darwin mich hier besucht und mir gestanden, was längst offensichtlich gewesen und von Taylor längst bestätigt worden war.

„Aaron. Ich... ähm... ich liebe dich. Du gehst mir seit damals nicht mehr aus dem Kopf.", sprudelte es aus dem Alpha. Ich stand nur mit offenem Mund da. Es war etwas völlig anderes es ins Gesicht gesagt zu bekommen. Ich hatte Darwin die identische Antwort wie zuvor Taylor gegeben. Seitdem schwiegen wir das Thema tot. Meine beiden Freunde beschränkten sich auf ihre Aufgabe. Wechselten sich sogar ab und schliefen nie beide gleichzeitig in der WG. Das war zum verrückt werden! Andererseits kannte ich den Grund für ihr seltsames Verhalten. Ich hatte schließlich damit angefangen.

Abends klopfte es an der Tür. Samu trat ein. „Willst du dich wieder hier verkriechen?" fragte er offen. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn du das Wochenende mit in den Wald kommst. Logans und unser Rudel wollten dein einjähriges als Friedeswächter feiern." Ich stutzte und schielte auf den Kalender. Tatsächlich. Seit einem Jahr machte ich diesen Job bereits. Dabei fühlte ich mich nach wie vor wie ein Frischling.

„Kommen Taylor und Darwin auch mit?" „Natürlich. Wo du bist, sind die beiden nie weit." Ich lächelte. „OK. Lassen wir es gut sein für diese Woche." Samu geleitete mich noch bis zum Haupttor der Wohnanlage und wünschte mir einen schönen Abend. Taylor und Darwin hockten zusammen in der Küche. „Hallo.", murmelte ich schlicht und setzte mich dazu. Die beiden brüteten über einer Landkarte. Der Abschnitt zeigte genau das Grenzgebiet zwischen Darwins und Logans Revier. Ich hoffte einfach, dass es nur Planung für die kleine Party ging. Die beiden nahmen Sicherheit verdammt ernst. Spätestens seit dem Einfall der Black Union auf Alba Montem prüfen die beiden persönlich alles doppelt und dreifach.

„Wann steigt das Ding denn?", murmelte ich und biss vom Brötchen ab, das ich aus dem Brotkorb fischte. Die beiden Freunde schaute sich an. „Morgen Nachmittag.", antwortete Darwin ohne mich anzusehen. Danach herrschte mir gegenüber Funkstille. Nachdem die Übernatürlichen einige Szenarien durchgegangen waren, verschwand die Karte in einer Schublade. Anschließend verzogen sich die beiden auf ihre Zimmer. Jetzt hockte ich alleine am Tisch. Meine Beine führten mich fast automatisch ins Wohnzimmer. Unentschlossen zappte ich durch die unzähligen Kanäle. Seit wann lief freitags nur noch Schrott in der Glotze? Ein Comedy-Fritze nach dem anderen. Einer unlustiger als der andere. Frustriert drückte ich auf den roten Knopf. Ich angelte ein Lexikon aus dem Bücherregal. Natürliche und übernatürlich Biologie. Diesen Titel trug der Schmöker. Es war ein modernes Sachbuch mit vielen farbigen Bildern. Ich blätterte das Buch durch. Dabei stieß ich auf einen Vergleich. Mensch – Vampir – Werwolf. Ein Kapitel befasste sich tatsächlich mit einem Thema, dass die Wissenschaft sonst so gerne belächelte: Liebe. Trotzdem las ich es aufmerksam durch.

Werwölfe. Sie finden in ihrem Leben nur einen wahren Gefährten, dem sie bis ans Lebensende treu ergeben sind. In Einzelfällen konnten Werwölfe jedoch sogar zwei Gefährten zugeordnet werden, die zusammen als großes Ganzes betrachtet werden.

Ich schluckte. Hatte Darwin vielleicht ebenfalls zwei Gefährten? Unbehaglich blätterte ich um. Hier ging der Artikel weiter. Merkwürdig weiter.

Findet der Werwolf in einer anderen Spezies seinen Gefährten, ist es möglich, dass der Gefährte nicht sofort die Verbindung spürt. Wird der Werwolf abgelehnt, kann dies Folgen haben. Einige werden nachfolgend beschrieben.

Ich las den Text durch. Das Schlimmste war letztendlich, dass ein Werwolf sogar eingehen, also sterben konnte. Die Anzeichen für dieses Szenario begann mit der sofortigen Abgrenzung vom Gefährten. Scheiße. Darwin erfüllte genau diese Anzeichen. Eilig suchte ich das Kapitel über Vampire.

Vampire. Sie können sich frei entscheiden. Wenn sie sich dazu entschließt ihr Herz verschenken, ist dies endgültig. Wird die wahre Liebe nicht erwidert, erstarren die Gefühle des Vampirs zu Stein. Dies geht auf alle Gefühlsarten über und kann unter Umständen die Selbstheilung des Vampirs beeinträchtigen.

Mit Verlaub. Das war nicht ganz so dramatisch wie bei Werwölfen. Schlimm. Aber nicht sofort tödlich. Trotz alledem. Ich musste mich entscheiden. Aber wollte ich das überhaupt? Ich mochte beide. Sehr sogar. Viel zu sehr um einen auszugrenzen. Die beiden waren praktisch ein Teil von mir. Ein Teil meiner Seele.


Das Leben zwischen den StühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt