Kapitel 76

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Ich nehme dann einmal die himmlische Unterstützung zum Mitnehmen, bitte.
In mir erwacht das, womit ich heute auf keinen Fall mehr gerechnet habe: ein Funke der Hoffnung. Klein, unscheinbar und wahrscheinlich schneller weg, als mir lieb ist, aber immerhin da. Wie sollen denn die Toten gleichzeitig gegen Engel und Teufel ankommen?
Bestenfalls überhaupt nicht. Denn das widerum würde heißen, dass dieses ganze Chaos bald vorüber sein wird und ich mich der Normalität widmen kann.
Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass wir das Böse aufhalten, bevor die Welt in Flammen untergeht.

Im Raum herrscht noch immer elende Stille. Warum stimmt keiner von ihnen dem Angebot zu? Worauf warten die? Ein größeres Wunder als das können sie wohl kaum erwarten. Ich räuspere mich leise und blicke fragend durch die Runde. So gut wie jeder weicht mir aus.
Keine Reaktionen.
Kein Nicken.
Kein Lächeln, nichts.
Allesamt starren sie angestrengt ins Leere. Na super. Langes Schweigen, gefolgt von ausweichenden Gesten, kann nichts Gutes bedeuten. Auch wenn es auf der Hand liegt, dass Himmel und Hölle nicht gerade die Verbündeten sind, die man erwartet, verstehe ich nicht, warum man auch nur eine Sekunde zögert, diesem Angebot zuzustimmen.
Ich atme tief ein, um mich zu beruhigen.
„Wo liegt das Problem?"
Meine Stimme klingt erstaunlich ruhig, zumindest geduldiger, als ich mich gerade fühle.
„Alice, das ist alles nicht so einfach.", sagt Leviathan nach kurzem zögern, wobei der Rest zustimmend bejaht. Ich schnaube spöttisch aus, schließe kurz meine Augen und greife mir mit einer Hand an die Stirn.
„Es ist also nicht so einfach?"
Ich frage provokativ nach, damit er seine Aussage nochmal revidieren kann. Er hingegen nickt nur.
Fassungslos verdrehe ich meine Augen. Es ist also nicht so einfach.
Ist es das, was er gerade sagte?
In mir brodelt es, meine Fingernägel bohre ich in die Armstütze meines Stuhles.
„Soll ich euch sagen, was nicht so einfach ist? Zu erfahren, dass man ein Hybridwesen mit äußerst fragwürdigen Kräften ist, plötzlich in die Hölle geschliffen zu werden, die kurz vorm Krieg steht und ganz nebenbei das verdammte Universum retten soll, ohne auch nur den leisesten Ansatz eines verschissenen Plans zu haben, wie man das machen soll. Das, meine Herren, ist nicht so einfach.
Aber ein Angebot, das das einzige Problem eurer Existenz löst, anzunehmen, ist keineswegs nicht so einfach."
Meine Stimme wurde zwischendurch lauter, wobei ich zum Ende einen beunruhigend ruhigen Ton gewählt habe.
Nicht ausrasten. Immer schön ruhig bleiben. Auch wenn es gerade nicht so scheint, Gewalt ist keine Lösung.
Wobei ein fester Schlag in das Gesicht bestimmt nicht schaden würde.
„Solch ein Bündnis wird nicht gerade auf Zuspruch treffen. Bestimmt ist dir bekannt, dass Himmel und Hölle sich nicht immer so einig sind.
Wenn der Rat sich querstellt, sind die Toten nicht mehr unser einziges Problem; dann können wir noch Bürgerkrieg auf der Liste ergänzen.", wendet sich Belial mir zu.
Ich schnaube. Unglaublich! Und sowas sollen die bösartigsten und stärksten Wesen der Hölle sein.
Mit denen geh ich an Ostern wohl erstmal Eier suchen, nur so aus Spaß, damit sie auch mal welche haben.
„Wer regiert denn die Hölle?
Ihr oder die? Ihr solltet eure Untertanen wohl besser in den Griff bekommen, sonst sind wahrscheinlich bald keine mehr übrig, die ihr regieren könnt."

Ich blicke zu den Engeln, da ich auf ihre Unterstützung hoffe.
Bis auf Gabriel sehen alle gleichgültig aus. Gabriel jedoch nickt mir stolz zu und zwinkert mit einem Auge.
Luzifer erhebt sich von seinem Stuhl und tigert nachdenklich durch den Raum.
Bis jetzt ist er der Einzige, der sich noch überhaupt nicht zu dem Thema geäußert hat.
„Sie hat Recht."
Die Worte hallen nicht nur im Raum, sondern auch in meinem Kopf wieder.
Die Stimme der Vernunft!
Wie sagt man so schön? Dein Wort in Gottes Ohr.
„Bitte? Dass ausgerechnet du das sagst! Luzifer, das willst du nicht wirklich. Sie haben dich verraten. Wir brauchen keine Hilfe von so arroganten Heuchlern, wir schaffen das alleine.", sagt Satan, wobei er energisch von seinem Stuhl aufsteht und mit großen Schritten auf Luzifer zusteuert.
Luzifers Aura verändert sich, jetzt ist er nicht nur schlecht gelaunt, sondern wirklich genervt.
„Du hast mich schon richtig verstanden, wir brauchen Hilfe. Die Sache hat unerwartete Ausmaße angenommen; und wenn du nicht alles opfern willst, was dir lieb ist, gestehst du es dir endlich ein.
Ich könnte mir auch schöneres vorstellen, aber das hier ist nun mal kein Wunschkonzert. Besser die als niemand."

Michael schnaubt leicht aus.
„Wenigstens einer von euch ist noch bei Vernunft."
„Du bist jetzt besser still, Bruderherz.", sagt Luzifer bitter.
Der Satz trieft förmlich vor Ekel und Abscheu.
Moment, Bruder.. was?
Ich wechsle irritierte Blicke zwischen Luzifer und Michael, die sich gegenseitig mit Blicken Umbringen.
„Du bist nicht mehr mein Bruder, schon vergessen? Gott hat dich hierher verbannt. Du bist keiner von uns, du bist gefallen."
Es gibt also wirklich einen Gott. Warum löst er dann nicht einfach unser kleines Problemchen?
Wenn er wirklich allmächtig ist, sollte das doch einen Klacks darstellen.
„Und dennoch bin ich der gleiche wie damals. Nur nennt man mich jetzt anders."
„Du bist nicht mehr, als ein Schatten deiner Selbst. Aber das ist ein anderes Thema.
Ist das ein ‚Ja', haben wir eine Allianz?", fragt Michael, wobei er diese Frage offensichtlich ausschließlich an Luzifer stellt.
Eine immense Spannung liegt in der Luft, jeder im Raum steht unter Strom.
Diese Allianz kann Verderben und Rettung gleichermaßen sein.
„Ja, ist es. Wie könnte ich dir, Bruder, auch nur einen Wunsch ausschlagen?"
„Wer hilft hier denn wem? Hochmut war schon immer dein Problem. Du hast schon früher zu viel von dir gehalten und genau deshalb bist du auch so tief gefallen, um genau zu sein bis hierunter in dieses Loch."
„Du vergisst, ich wurde als vollkommenes Wesen geschaffen, vollkommener noch als du es bist, nur im Gegensatz zu dir mit einem freien Willen. Geht jetzt, den Rest regeln wir. Macht die Heerscharen Gottes bereit, der Krieg ist unausweichlich."
Unglaublich. Hör doch auf, so anzugeben. Hochmütig beschreibt ihn wohl ganz treffend.
Ich atme aus; wir haben endlich Verbündete in diesem Kampf, wobei mir die Vorstellung eines Krieges einen Schauer über den Rücken jagt.

Ich bin noch immer baff. Die zwei sind eindeutig eine Nummer zu groß für mich. Brüder also. Ich erinnere mich daran, als ich erfahren habe, wer Mr. White wirklich ist und im Internet nach Informationen gesucht habe und auf Bibelseiten gelandet bin, die vom Sturz eines Engelsfürsten namens Sohn der Morgenröte, Morgenstern berichten. Die Mythen sind also wahr. Luzifer war dieser Engel, oder ist er es noch immer? Wie hieß es noch gleich, er ist das Bild der Vollendung, voll von Weisheit und vollkommen an Schönheit.
Ich hebe spöttisch eine Augenbraue. Diese Beschreibung von ihm ist wohl recht subjektiv.
Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, so ganz falsch ist sie dann doch nicht.

„Alice, du kommst mit uns, wir müssen mit dir reden.", sagt Michael ohne jegliche Emotionen.
Ich schlucke hörbar und verkneife mir ein stotterndes ‚I-Ich?'.
Zwar habe ich mich mittlerweile mit der Existenz übernatürlicher Wesen abgefunden, aber bei der Macht, die von den Personen in diesem Raum ausgeht, ist mir noch immer nicht geheuer.
„K-Klar."
Wie könnte ich denn bei dieser netten Aufforderung ablehnen?
Micheal macht eine Kopfbewegung und Gabriel kommt auf mich zugelaufen, während er und Raphael verschwinden.
„Keine Sorge, das wird nicht wehtun."
Das ist nicht unbedingt beruhigend.
„Wo bringst du mich hin?"
„Der Ort hat viel Namen: Nirwana, Walhalla, Reich Gottes, Paradies, Jenseits; doch ich bevorzuge den Namen Himmel."

Hello Devil, nice to meet you!  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt