Kapitel 28 - »Nur reden«

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Der Junge in den Visionen war ich, mindestens sechs und maximal vier Jahre junger als ich. Meistens waren es fünf Jahre. Das Mädchen war meine Schwester, Akemi Akabane. Sie war tot. Wohl vor zwei bis drei Jahren gestorben.

Still saß ich mit meinem Stiefvater am Esstisch. Er am einen, ich am anderen Ende. Immer wenn sich unsere Blicke trafen, schaute ich ihn verächtlich, misstrauisch an. Er bemerkte dies. "Karma?", ich blickte von der durchsichtigen, aber dennoch festen Oberfläche des Tisches hoch.
"Was willst du?", fragte ich zynisch und sah ihm in die Augen.
"Ich will reden. Nur reden." antwortete er mir.
"Aha," entgegnete ich kühl und wandte mich von ihm ab. "Dann fang an." er nickte, schien zu überlegen.

"Yasumi ist noch immer Fotografin, nicht?", fing er schließlich an. Ich nickte stumm. "Und dein leiblicher Vater?"
"Verwaltungsmitarbeiter." nun nickte er, ich schwieg.
"Wie läuft es bei dir so in der Schule?"
"Gut." ich wollte ihm das nicht sagen. Ich wollte ihm sagen, dass meine Noten schlecht waren, ich keinen Abschluss schaffen würde und so. Aber das wäre gelogen. Und ich würde wohl nicht ganz schmerzfrei entkommen. Ich hatte ohnehin schon Angst, dass dieses Szenario eintreten würde, daher blieb ich bei knappen Antworten und unterließ Provokation.
"Du scheinst wieder ins Leben gefunden zu haben?", sein gespielt nettes Verhalten machte mich wütend. Ich war es so von ihm gewohnt. Nur war es ungewohnt, dass wir alleine waren. Normalerweise würde er sich nur in Gegenwart meiner Mutter oder anderen Personen so verhalten.
"Ja. Ziel nicht erreicht, hm?", er ignorierte mich gekonnt. Es war ein Test gewesen. Im Normalfall hätte ich jetzt einen Schlag kassiert. Dennoch wusste ich nicht, ob das eine Lüge war.
Habe ich je wieder ins Leben gefunden?

"Du hast Brand- und Schnittnarben," schlussfolgerte Takuto, nachdem er einen Blick auf meine Arme gerworfen hatte. "Wieso?"
"Weil du drauf geachtet hast." erwiderte ich und verschränkte die Arme vor meiner Brust, damit er die Narben nicht mehr sehen konnte. Es stimmte. Die Narben waren nicht gut zu erkennen, man sah sie nur beim genauen Betrachten meiner Arme.
"Warum sind die Narben da?"
"Ich war dumm, darum." ausgerechnet mit ihm, dem Grund, würde ich definitiv nicht darüber reden wollen. Ein Jahr lang hatte ich das Verbrennen und Schneiden als einzigen Ausweg betrachtet. Dann hatte ich etwas besseres gefunden, einen sozusagenen Notausgang.

"Du siehst müde aus, Karma. Hast du schlecht geschlafen?", fragte er, nachdem er meine Augenringe erblickt hatte.
"Gar nicht."
"Oh," er legte eine Pause ein. "Warum?"
"Konnte nicht schlafen."
Lüge Nummer 1.
"Hm, okay," ich war erreichtert, dass er mir glaubte. Ich hatte seit Tagen nicht geschlafen. "Dann solltest du heute schlafen. Du wirkst abwesend."
"Ja."
Nein. Zweite Lüge.

"Wo ist Akemi?", er schien es wirklich nicht zu wissen. Ich fing an lautstark zu lachen. Er sah mich verwirrt an.
"Tot."
"Wieso?"
"Weil sie gestorben ist." er verdrehte sichtlich genervt die Augen.
"Woran ist sie gestorben?"

Ein dreizehnjähriger Junge gegenüber eines vierzehnjährigen Mädchens. Der Junge hält ein Messer in seiner Hand. Blut tropft von diesem hinunter. Tiefe Schnittverletzungen sind an den Armen der Vierzehnjährigen zu erkennen. Das Blut fließt in noch geringeren Abständen von ihrem Körper hinunter, als von dem Messer. Angst spiegelt sich in ihren Augen wieder. Sie steht am Rande eines Daches. Sie fällt nach hinten, von ihrem Gegenüber geschubst.
28 Schnittwunden, die das Wort 'DISAPPOINTMENT' ergeben.

"Mord."
"Ist bekannt, wer der Möder ist?"
"Takuto Makiri."
"Was?! Ich habe niemandem umgebracht."
"Doch, Karma Akabane. Und aufgrund meines Todes musste meine Schwester sterben," auf einmal wurde mir alles klar. Ich hatte Akemi Akabane, meine ein Jahr ältere Schwester, umgebracht, von dem Dach des Hochhauses geschubst und zuvor ihre Arme eingeschnitten. "Ich bin der Mörder." er löste sein Schauspiel auf. Er stand auf und ging zu mir. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte er mich geschlagen und am Nacken hochgezogen. Er schubste mich, sodass ich mit dem Kopf gegen den Stuhl knallte und dieser zu Boden fiel. Er kniete sich zu mir.
"Unmensch," dann schlug er auf mich ein. Eine dunkelrote Substanz lief an meinem Gesicht hinunter und tropfte in regelmäßigen Abständen zu Boden. "Du bist ein Monster."

"Fragt sich, wer hier wirklich das Monster ist; du oder ich...", sagte ich schwach verbittert auflachend. "Du warst derjenige, der sagte, er wolle nur reden," mein Blick richtete sich unmittelbar auf seine Augen. "Lügner...", sagte ich abschließend, bevor ich hinfiel, nur um erneut gegen den Stuhl zu knallen. Meine Sicht verschwamm.

I Won't Disappoint You | Assassination Classroom FFWhere stories live. Discover now