Kapitel 4

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Den Rest des Unterrichts verbrachte ich schweigend. Meine eigenen Gedanken schienen mich zu erdrücken und ich hatte keine Chance, mein Wissen noch vor dem Läuten einzusetzen.
Kaum ertönte das Geräusch, dass die Pause verkündete, sprang ich von meinem Platz auf, fegte meine Sachen in meine Tasche und drängte mich an dem Typen vorbei. Aus dem Augenwinkel glaubte ich zu sehen, wie er mich beobachtete und den Mund öffnete, doch ich drehte mich nicht um, um mich zu vergewissern. Er war der letzte, mit dem ich zurzeit reden wollte.
Wortlos stürmte ich mit dem Strom an Studenten nach draußen.

Die komplette Unterrichtseinheit war total seltsam gewesen. Ich hatte vor lauter Nervosität nicht still sitzen können, hatte mir sehnlichst das Ende herbeigewünscht, was ich noch nie gemacht hatte und hatte Seiten meines Blocks mit sinnlosen Gekritzel verschwendet.

Aufgewühlt und übelst schlecht gelaunt eilte ich den Gang entlang auf der Suche nach bekannten Gesichtern. Ich brauchte irgendwen zum Reden. Zwar wollte ich nicht über ihn reden, aber ich brauchte Abwechslung im allgemeinen. Sonst würden mich meine eigenen Gedanken nur wieder in den Wahnsinn treiben und dann wurde ich erst recht unausstehlich.

"Miriam? Miriam? Hey, bist du taub!?", hob sich eine Stimme von dem Schülergeschnatter ab und ließ mich umdrehen. Suchend sah ich mich um, bis ich Valerie sah, die sich auf wackeligen Schuhen einen Weg zu mir bahnte.
Ich stellte mich zu einer Säule an den Rand und wartete, bis sie mich einholte.

"Ich rufe dich schon zum hundertsten Mal.", begrüßte sie mich leicht keuchend. "Bist du taub oder woran denkst du?"
Mit einem leichten Lächeln umarmte ich sie und legte mein Kinn auf ihre Schulter. Bei ihr einfach nur zu stehen, wissend, dass sie bei mir war, nahm mir eine große Last von der Seele.

Doch selbst ohne eine Antwort auf ihre Frage brauchte Valerie nicht mal eine Sekunde, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.
Sie packte mich an den Schultern und hielt mich auf einer Armlänge Abstand. Unter dem kritischen Blick ihrer blauen Augen seufzte ich resigniert. Ich hatte kurz nach einer Ausrede überlegt, doch dann entschloss ich mich, dass eine Lüge so oder so nicht von langer Dauer wäre. Denn irgendwann würde Valerie herausfinden, dass ich sie angelogen hatte. Ich hatte sie einmal belogen und dabei war es nur um ihr Geburtstagsgeschenk gegangen, aber bei Gott, es war das aller letzte Mal, dass ich sie angelogen hatte.

"Miriam, was ist los?", fragte sie mich und sprach aus, was ich schon befürchtet hatte. "Du siehst aus, als wäre dir nicht nur eine Laus, sondern eine ganze Insektenarmada über die Leber gelaufen."

Bei ihrem Vergleich kam ein Lachen in mir auf und ich schüttelte den Kopf. "Ach weißt du, ich hatte ja heute so eine Präsentation.", fing ich an und Valerie nickte heftig. Natürlich wusste sie es, denn dich hatte den beiden das ganze Wochenende in den Ohren gelegen, dass sie keine Partys machen durften, bis ich meine Präsentation zu Ende gebracht hatte.
"Jedenfalls lief mein Vortrag total super, ich hatte echt einen guten Lauf, aber dann kam plötzlich so ein neuer Typ in den Saal und hat mich aus der Bahn geworden. Ich sag's dir, 'scheiße' beschreibt den Verlauf meiner Präsentation nicht mal annähernd." Normalerweise war ich keine Person, die oft nörgelt, aber ich konnte die Anschuldigung in meiner Stimme nicht unterdrücken.

Valeries blaue Augen begannen zu Leuchten. "Echt? Ein Neuer? Wie sieht er aus? Sieht er gut aus? Ist er süß?" Warum überraschte es mich nicht, dass das Gespräch in diese Richtung ging?

"Alles in allem bin ich froh, dass ich heute so früh aushabe, denn der Tag ist beschissen gewesen, aber keine Sorge, mir geht es gut. Danke der Nachfrage.", murrte ich und befreite mich aus ihrem Griff. Ich drehte mich um und stolzierte den Gang entlang, Valerie im Schlepptau.
"Miriam ach komm schon, du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe! Jetzt warte bitte!", rief sie mir hinterher und holte mich tatsächlich ein. Ich ignorierte ihr Geplänkel und zusammen gingen wir die Treppen hinab zur Eingangshalle.

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