Kapitel 38

2.3K 126 55
                                    

Zu Beginn des Treffens hatte ich mich kurz gefragt, ob es wirklich eine schlaue Idee war, mich mit Xavier zu treffen.
Rein theoretisch betrachtet hatte ich ihn erst vor kurzem kennengelernt und sehe ihn zum zweiten Mal. Das war doch genau das, was man Kindern sagte, dass sie nicht machen sollten. Mit Fremden mitgehen, sich mit ihnen treffen oder mit ihnen reden. Aber wenn man nicht über diese Schwelle tritt und das Risiko auf sich nahm, dann konnte man nie sagen, ob es falsch gewesen war. Denn zu Beginn war jeder ein Fremder und Freundschaften und Kontakte entstanden erst dadurch, wenn man über seine Schatten sprang und sich einem Fremden näherte.

"Ich wundere mich noch immer, warum du mir am College nicht aufgefallen ist", sprach Xavier meine Gedanken aus und nahm einen Schluck von dem Shake, der zugegebenermaßen fantastisch schmeckte. So natürlich und fruchtig, ein Erlebnis für die Geschmacksnerven, unübertrieben.

Ich wartete, bis er sich wieder zurücklehnte, ehe ich an dem Shake nippte.
Als ich wieder aufsah, bemerkte ich das Grinsen auf seinen Lippen, dessen verführerische Note meinen Magen kribbeln ließ, ein Gefühl, das ich in letzter Zeit häufiger gefühlt hatte.

"Was?", fragte ich leicht verlegen, als er den Blick nicht abwandte, sondern mich noch immer intensiv musterte.
"Nichts", erwiderte er leichthin, doch seine Augen sagten etwas anderes. Der interessierte Ausdruck, der in ihnen lag und den karamellfarbenen Farbton dunkel wie Kaffee werden ließ. Ein angenehmes Ziehen breitete sich in meiner Brust aus und ich atmete langsam aus.

"Warum siehst du mich dann so an?"
Er neigte den Kopf zur Seite und schenkte mir ein feines Lächeln. "Du siehst mich doch auch an, Miriam."
Meine Wangen wurden von einem dunklen Rot durchzogen und schluckte, aber ich wandte meinen Blick nicht ab.
"Nur, weil du angefangen hast", gab ich zurück, doch meine Stimme klang selbstsicherer, als ich mich gerade fühlte.
"Habe ich das?"
Ich nickte, weil ich befürchtete, dass meine Stimme mitten im Satz brechen und mich dadurch lächerlich machen würde.

Gedankenverloren beugte ich mich vor und wollte noch etwas von dem Shake trinken, als sich Xavier im selben Moment ebenfalls aufrichtete, scheinbar mit demselben Vorhaben wie ich.
Ich erstarrte in meiner vorgebeugten Geste, starrte mit leicht geöffneten Mund zu Xavier, dessen Gesicht nur mehrere Centimeter von meinem entfernt war. Mein Herz machte einen Satz und schlug viel schneller als gewöhnlich weiter. Das Blut pulsierte in meinen Ohren und meine Handflächen, die sich an der Tischkante abstützten, wurden schwitzig.
Meine Lippen öffneten sich von selbst und ich wollte etwas sagen, doch mein Kopf war leer und ich brachte schlicht und einfach keine Worte heraus.

Alles, was ich tun konnte, war Xavier anzusehen. Ich war vor Schreck erstarrt und gleichzeitig wusste ich, dass sich mir gerade die Möglichkeit geboten hatte, ihn von Nahe anzusehen.
Seine durchdringenden Augen, die ebenfalls mein Gesicht erkundeten. Seine gerade Nase und seine männlichen Wangenknochen, die seiner Gesichtsform die richtige Kontur gaben. Und dann waren da noch seine sündhaft geschwungenen Lippen, die verboten gut aussahen.

In meinem Hinterkopf blitzte kurz Nolan auf, der lachend seine Arme ausgebreitet hielt, als würde er auf mich warten.
Im nächsten Moment zog sich mein Herz zusammen und ich räusperte mich, um die Spannung zwischen mir und Xavier zu unterbrechen.

Dann lehnte ich mich zurück und strich mir meine Haare zurück.
Xavier betrachtete mich stumm, ehe er den Milchshake austrank und der jungen Kellnerin mit einer Geste bedeutete, zahlen zu wollen.
Während er bezahlte -war ich eigentlich tun wollte, aber er mir einfach zuvorgekommen war- zog ich meinen Mantel an und wickelte mir meinen Schal um. Mittlerweile war mir echt heiß und ich redete mir liebend gerne ein, dass das an den vielen Gewandschichten lag, auch wenn ich tief in mir wusste, dass das ganz eindeutig nicht so war.

Als wir nebeneinander das Café verließen, schloss ich meine Augen, als mich die frühwinterliche Kälte empfing und meinen rasenden Puls beruhigte. Normalerweise verabscheute ich diese eisigen Temperaturen, doch jetzt war ich mehr als nur erleichtert, dass es so kalt war.

Protect HerWhere stories live. Discover now