Kapitel 6

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Der Bass von irgendeinem Lied dröhnte mir jetzt schon unangenehm laut in den Ohren und das, obwohl ich noch immer in Valeries Zimmer hinter geschlossener Türe saß und sie mich noch immer nicht gehen ließ, weil sie mit ihrem Werk einfach nicht zufrieden war.

"Irgendwas fehlt noch...", murmelte sie mehr zu sich selbst als zu mir und betrachtete mich mit einem kritischen Blick. Ich fühlte mich mehr wie ein Versuchsobjekt, aber das würde ich ihr natürlich nie sagen, denn das wäre mein sicherer Tod.
Also blieb ich still und artig auf ihrem weißen weichen Teppich sitzen und sah abwechselnd zwischen ihr und meinem Spiegelbild hin und her.

Ich wusste ehrlich nicht, was sie an mir noch auszusetzen hatte, denn ich sah sogar aus meiner eigenen Sicht schön aus, wenn auch ein bisschen bitchig und overdressed, aber das war eben Valeries Stil.

Das Teil, was ich trug, war mehr ein Mantel als ein Outfit, das man auf einer Party tragen würde, doch ich beklagte mich nicht. Zwar war es ziemlich kurz und hatte einen tiefen Ausschnitt und das einzige, was ich darunter trug, war Unterwäsche, aber ich sagte nichts. Denn es war wunderschön. Und ich war froh, dass sie mich nicht in so ein knappes Kleid gesteckt hatte, wie das, was sie jetzt in rot trug.
Mein Mantel-Teil war beige, vielleicht rosé angehaucht, mit einem Bändchen an der Taille zum Binden und die Ärmel gingen mir knapp über den Ellbogen.

Die Farbe des Outfits ließ meine roten Haare weich aussehen, die mir Valerie geglättet hatte. Nun fielen sie mir weich über den Rücken und dufteten wie der Rest meines Körpers dezent nach "Oh Lady Orange - Die Verführung des Herbsts". Aber das war auch kein Wunder bei der Menge an Parfum, die meine Freundin verwendet hatte.

Zum Glück hatte sie meine Wimpern nur getuscht und sich für einen hellen Lidschatten entschieden, um "mein wahres Ich" zu betonen. Ich hatte sie gerade noch herumkriegen können, dass sie mir meine Sommersprossen ebenfalls überdeckte, denn sonst hätte ich keinen Fuß über die Türschwelle gesetzt.

"Ich hab's!", rief Valerie plötzlich aus und als ich mich zu ihr wandte, kramte sie in ihrem Make-up Täschchen herum. Besorgnis kam in mir auf und ich fragte mich, ob sie ihre Vorschläge nun doch über den Haufen werfen und mir dunkles Make-up ins Gesicht klatschen würde.
Doch zu meiner Erleichterung drehte sie sich mit einem Lipgloss in ihrer Hand um und strich ihn mir vorsichtig über die Lippen. Dann trat sie zurück und betrachtete mich erneut. Diesmal war ihr Blick deutlich weniger kritisch.

Schließlich legte sie den Lipgloss weg, drehte sich einmal im Kreis, sodass der Saum ihres Kleides bedenklich hoch flatterte und klatschte in die Hände.
"Du siehst aus wie ein Model!", quickte sie freudig und zog mich auf die Beine.
"Puh, wer hat mich denn so aussehen lassen?", konterte ich und wir fielen uns in die Arme.

Plötzlich öffnete sich die Türe und Jamie steckte den Kopf herein, ihre nun gelockten Haare umrahmten ihre Gesicht und betonten ihre leicht geröteten Wangen nur noch mehr.
"Wo bleibt ihr denn?", fragte sie über die Musik hinweg und ihre Stimme wurde ein wenig undeutlich. Jamie mochte es nicht wirklich, sich zu betrinken, aber wenn sie trank, dann trank sie schon mal alle unter den Tisch. Und wie sie sich anhörte, hatte sie das heute noch vor.
Sie trug ein weißes Vintage-Kleid aus den 80-er Jahren und ich wusste nicht, ob sie darin super süß oder verdammt sexy aussah.

"Wir sind gerade fertig geworden.", antwortete ich ihr und warf Valerie einen fragenden Blick zu, die eifrig nickte, ehe sie uns nach draußen schob, das Licht im Zimmer abdrehte und die Türe mit ihrem Schlüssel verschloss.

Die Luft in unserem Appartement veränderte sich schlagartig und stand zwischen Valeries Zimmer und dem offenen Bereich wie eine Wand aus Hitze, Schweiß, Deo und Alkohol.
Das Licht war abgedreht und die Neon-Schnüre an den Wänden waren aufgedreht und ließen die zur Musik tanzende Menge rot, lila, grün und blau leuchten.
Ich konnte von hier in die Küche sehen und seufzte bei dem Stapel an roten Plastikbechern, der sich da schon stapelte. Direkt daneben standen mehrere offenen Flaschen, einige davon beinhalteten sicher keinen Orangensaft, wie es auf der Verpackung stand.

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