Kapitel 32

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Wenn ich dachte, dass es schwer wäre mit rauchendem Kopf einzuschlafen, dann hatte ich noch nicht versucht, mit rauchendem Kopf wachzubleiben. Meine Augenlider fühlten sich an, als würden Tonnen an ihnen haften und sie mit ihrem gewaltigen Gewicht nach unten ziehen. Es war beinahe schmerzhaft, die Augen offen zu halten und wurde mit jeder Sekunde, die ich im Chemie-Saal saß schwerer.

Gestern, als ich mit Xavier nachhause gekommen war, war ich nicht weniger überrascht gewesen als er, als er mir offenbart hatte, dass er dasselbe College besuchte wie ich. Zwar war die Gebäudekonstellation nicht klein, aber da es ein privates Grundstück war, kannte jeder so ziemlich jeden um Ecken und Kanten.
Das Ganze wurde ein wenig gelüftet, als er mir mitteilte, dass er Wirtschaft und angehende Mathematik studierte und die meiste seiner freien Zeit nicht im Gelände verbrachte, sondern entweder laufen ging oder seine Familie besuchte.
Im Handumdrehen hatten wir Nummern ausgetauscht, aber das war es auch gewesen, da ich Valerie versprochen hatte, ihr bei einer angehenden Arbeit zu helfen. Nur, dass ich mich nicht auf die Arbeit und auch nicht auf die Rüge meiner Freundin konzentrieren konnte, sondern auf karamellfarbene Augen und einen Ausflug in den Wald.
Das war auch der Grund, warum ich stundenlang auf meine Decke gestarrt und nachgedacht hatte anstatt wie es mir mein Gewissen empfahl, zu schlafen. Die Auswirkungen spürte ich jetzt nur allzu deutlich und ich hatte ich selten so ausgelaugt gefühlt.

Ich bekam nicht einmal mit, wie der Tag zu Ende ging, bis mich Nolan antippte und ich hochschreckte. Schuldbewusst wich ich seinem fragenden Blick aus und stopfte meine Sachen in meine Tasche, ehe ich sie schulterte und aufstand.
"Du wirkst müde." Es war keine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung, doch ich hatte trotzdem das Gefühl ihm antworten zu müssen.
"Habe schlecht geschlafen", antwortete ich ausweichend und holte tief Luft, als wir durch die Eingangstüren nach draußen traten und es schlagartig kalt wurde. Die niedrigen Temperaturen halfen mir auf die Sprünge, wacher zu werden.

"Wie kommt es dazu?"
Ich unterdrückte ein Gähnen und schaute über den Rasen. Eine Ablenkung würde ganz gelegen kommen, aber die Wiesenfläche war wie ausgestorben, keiner verbrachte bei der Kälte seine Zeit draußen.
"Ich habe bis nach Mitternacht gelernt", erwiderte ich und fragte mich, warum ich ihn anlog. Schließlich gab es nichts, was mir unangenehm war oder ich verheimlichen musste.

"Und wo bist du gestern überhaupt gewesen?"
"Soll das jetzt eine Art Interview werden oder was? Habe ich nicht genug Fragen beantwortet Officer?"
Nolan blieb stehen und brachte mich mit einem Griff nach meinem Oberarm dazu, ebenfalls stehen zu bleiben. Ich drehte mich am Absatz zu ihm um und sah ihn abwartend an.
"Miriam, antworte mir", sagte er eindringlich und der Druck um meinen Arm wurde fester.

Mit einem Schnauben hob ich mein Kinn ein wenig höher und erwiderte seinen Blick ohne zu blinzeln. "Ich war gestern spazieren. Im Wald. Alleine."
"Und warum hast du mir das nicht gesagt?"
"Warum muss ich dir das sagen?"
Nolan stieß ein Zischen aus, als würde er um Beherrschung ringen. "Du weißt, warum ich wissen muss, wo du bist."
"Du musst gar nichts." Meine Stimme klang so gereizt, dass der Ausdruck auf seinem Gesicht sich veränderte und sein Mund zu einer harten Linie wurde. Wahrscheinlich hätte ich nicht so übertreiben sollen, aber ich war echt müde und hatte gerade keinen Nerv, mit ihm zu diskutieren.

"Miriam." Er presste meinen Namen heraus, als hätte er Schmerzen, ihn auszusprechen. "Ich bin als dein Schutzengel für deinen Schutz verantwortlich, also lass mich machen, was auch immer ich für gut halte und sag mir, warum du dich weggeschlichen hast."
Fassungslos sah ich zu ihm hoch. Machte er Witze? "Ich habe mich nicht weggeschlichen!"
"Ist das so?", fragte er und verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Niemand wusste, wo du gestern gewesen bist, bis du zurückgekommen bist."

Ich blinzelte überrascht. "Was soll das heißen?"
"Ich wollte dich gestern besuchen, aber du warst nicht da, sondern nur Jamie und Daemon, die mir beide allerdings nicht sagen konnte, wo du hingegangen bist."
Mein Mund klappte auf und zu, ohne, dass auch nur ein einziges Wort herauskam. Ich konnte das einfach nicht glauben, das war doch allerhand. "Du hast was?" Ich stieß ein ungläubiges Lachen aus und schaute überall anders hin, damit ich ihn nicht ansehen musste. "Ich fasse es nicht. Das ist doch- Kannst du nicht einfach damit aufhören?"

Nolan runzelte seine Stirn, als wüsste er nicht, warum ich mich so aufregte. Mit jeder Sekunde wurde das Feuer, das in meiner Brust tobte mehr und mehr zu einem Inferno. 
"Mit was aufhören?"
Ich wrang meine Hände, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Es war einfach zum Haare sträuben, ich hatte mich noch nie so missverstanden und hintergangen gefühlt.
"Spionier mir nicht andauernd hinterher!"
Ein Ausdruck von Schmerz blitzte in seinen Augen auf, doch er verschwand und wurde durch einen matten Glanz ersetzt. "Ich will nur für deine Sicherheit sorgen", sagte er tonlos und es klang so eingeübt, als hätte er diesen Satz schon hunderte von Malen gesagt.

"Verstehst du das nicht?" 
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und starrte ihn an. "Ich habe dich nicht darum gebeten, auf mich aufzupassen!"
Mein Ausruf sorgte dafür, dass die Maske von ihm abfiel und seine Augen stählern aufloderten. Mit einem Mal sah ich eine bedrohliche Seite an ihm, die mir bis jetzt verborgen geblieben war.
"Ich habe nicht die Wahl, 'Nein' zu sagen", zischte er. "Ich habe nicht die Wahl wie du, über mein Leben zu bestimmen und das zu tun, was ich will. Ich kann mir nicht aussuchen, wenn ich beschützen muss und ich kann mich schon gar nicht dagegen wehren. Es ist einfach so! Das ist das, was wir Engel nun mal machen! Wir beschützen euch!"

"Ich war nur spazieren, verdammt" Ich verdrehte meine Augen und ahmte seine Haltung nach. "Schwer vorstellbar, dass ich das überlebt habe."
Die Tatsache, dass ich ausgerutscht und hingefallen war ließ ich allerdings aus. Öl ins Feuer zu gießen erschien mir nicht wirklich ein schlauer Zug zu sein.
"Das ist doch nicht wichtig. Du scheinst den Kern der Situation nicht zu verstehen, Miriam. Denn ich kann nicht anders, als immer in deiner Nähe sein zu wollen. Ich habe keine Wahl, als dich zu beschützen, denn sonst wäre ich kein Schutzengel."
Seine Worte waren so hart und ehrlich, dass sich die Wut, die sich durch Übermüdung und Stress in mir angestaut hatte, schlagartig verpuffte. Zurück blieb eine Leere, die an mir nagte. Vielleicht hätte ich da nicht so viel reininterpretieren sollen oder ich war einfach wirklich nur müde von dem Ausflug gestern, aber plötzlich fühlte ich mich älter.

"Dann bist du also nur bei mir, weil du mich beschützen musst?"
Seufzen ließ ich meine Armen hinab hängen und schaute ihn an. Nolan stand aufrecht vor mir, das aggressive Erscheinungsbild und das Feuer, das seine Augen strahlen ließ, war noch nicht verschwunden. Während er schwieg und ich auf eine Antwort wartete, wurde mir so manches klar. Er war ein Engel. Ich war ein Mensch. Es war seine Aufgabe mich zu beschützen. Und es würde keine Antwort mehr kommen.

Mir wurde kalt, aber ich glaubte nicht, dass das am Wind lag, der die kahlen Äste der Eichen zu erzittern und die Hartlaubbüsche, die den Rand des Rasens zierten, zum Rascheln brachte. Nein, mir war kalt, weil ich einfach Schlaf brauchte. Schlaf, ein weiches Bett mit einladenden Kissen, einem Tee und vielleicht Taschentücher. Ich spürte, wie meine Augen anfingen zu brennen. Möglicherweise viele Taschentücher.
Ich schluckte meine aufkommenden Gefühle runter und blinzelte heftig, als könnte ich dadurch meine Emotionen vertreiben. Zwar verstand ich selbst nicht ganz, was in den letzten Minuten mit mir losgewesen war und ich sah sogar ein, dass ich ein wenig übertrieben hatte. Aber das war nichts gegen seine Wahrheit gewesen, die er mir vor Augen geführt hatte. Er war nicht hier, weil er es wollte. Er war hier, weil er es musste. Und ich dummes, dummes Mädchen hatte gedacht, dass er meine Nähe gesucht hatte, weil er es wollte.

"Weißt du", sagte ich schließlich leise, weil ich wusste, dass er nichts mehr sagen würde. "du hast recht. Ich bin nur ein Mensch, natürlich verstehe ich nicht, was du als Engel durchmachen musst, das ist immerhin neu für mich." Ich lachte freudlos auf, weil mir das Ganze wahnsinnig ironisch vorkam. "Immerhin habe ich bis vor kurzem noch nicht mal an Engel geglaubt, aber was soll ich sagen? Nun bist du da und du bist mein Schutzengel. Ich hätte nicht so undankbar sein sollen. Tut mir leid, dass ich so eine Last für dich bin."
Nachdem die Worte über meine Lippen gekommen waren, drehte ich mich um und ging davon Richtung Appartement. Alles, was ich wollte, war alleine sein.

"Miriam warte."
Die Stimme hinter mir klang leise und ich nahm an, dass mir Nolan nicht folgte, sondern stehen geblieben war und mir hinterher sah. Doch ich kratzte das letzte kleine bisschen Stolz zusammen, um nicht zurückzusehen. 
"Bleib stehen Miriam."
Nun klang es lauter, aber das Echo, das danach kam sagte mir, dass er noch immer am selben Ort stand. Erwartete er wirklich, dass ich mich ihm beugen und zu ihm zurückkommen würde? Ich krallte meine Finger in den Stoff meiner Tasche und konzentrierte mich auf meine Schritte.
"Verdammt Miriam, jetzt bleib stehen!"
Ich zuckte bei dem beinahe verzweifelt klingeden Brüllen zusammen, das über den Rasen hallte und erstarrte. Mein Blick war regungslos nach vorne gerichtet und ich atmete langsam aus. Dann schulterte ich mir meine Tasche erneut und ging weiter. 
Diesmal rief er nicht nochmal nach mir.

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