Kapitel 33

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Der nächste Tag war die Hölle. 
Nolan zu ignorieren war leicht, aber neben ihm zu sitzen und zu spüren, dass er da war, stellte sich als schwere Aufgabe heraus. Es war wie eine Herausforderung, ihn nicht anzusehen, wenn ich seinen durchdringlichen Blick auf mir spürte. Wenn ich das unausgesprochene 'Sieh mich an' beinahe hören konnte und wenn ich sein schlechtes Gewissen wie dunkelgraue Wolken förmlich sehen konnte. 
Es war einfach zum Heulen und ich wusste nicht, was ich tun konnte, damit es besser wurde. Ich wusste nicht mal, was falsch war. Rein theoretisch hatte er ja nichts falsches getan. Ja, er war aufdringlich und es war super nervig gewesen, dass er immer wie ein Ninja um mich herumgeschlichen war, aber ich hatte auch viele schöne und besondere Momente mit ihm geteilt und die Erinnerungen stachen wie Messer in meine Brust.

Obwohl erst Dienstag war fühlte ich mich schon bereit für das Wochenende und als ich mich endlich wieder in meinem Zimmer verkriechen konnte, wollte ich mich eigentlich schlafen legen, beschloss dann jedoch zu lesen, um mich abzulenken.
Ich ging zu dem Stapeln von Büchern, die ich mir zwar gekauft, aber noch nicht gelesen hatte -wenn mich der Eifer beim Shoppen packte, kaufte ich mir immer mehr Bücher, als ich lesen konnte und hatte dann immer einen Vorrat in meinem Zimmer parat liegen- und suchte mir eines aus, dass mich ansprach.
Meine Wahl fiel auf 'It' von Stephen King. Zwar hatte ich den Film schon etliche Male gesehen, aber ich hatte mir geschworen, auch die Originalversion zu lesen. Eigentlich stand ich es mir mehr auf romantische Bücher, aber irgendwie hatte ich gerade keine Lust darauf.

Zusammen mit dem Buch und einem Müsliriegel setzte ich mich im Schneidersitz auf mein Bett, legte die Decke um mich, lehnte mich am Kopfteil des Bettes an und schlug die erste Seite des Buches auf. 
Für das, dass ich den Film beinahe in- und auswendig kannte, baute das Buch eine vollkommen andere Atmosphäre auf, die mich in eine düstere Welt führte. Ohne, dass ich es bemerkte, wurden Minuten zu Stunden und ich war so gefangen zwischen den Zeilen, dass ich das Buch vor Schreck zur Seite schleuderte, als es an meiner Türe klopfte.
Einige Momente saß ich still da und wartete, bis sich mein Herzschlag wieder beruhigte, ehe ich mich räusperte. "Ja?"

Die Türklinke wurde langsam runter gedrückt und für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich ernsthaft, ob das jetzt Pennywise sein könnte, der kam, um mich in den Kanal zu zerren. Doch dann schob sich Jamies Gesicht in den Türspalt und lächelte mich zaghaft an.
"Hey, da ist Besuch für dich."
"Besuch?" Ich runzelte verwirrt die Stirn. Nicht, dass ich jemanden eingeladen hätte und Spontanbesuche selten wären, aber wer würde -ich warf einen Blick auf meinen Wecker und sah zu meinem Entsetzen, dass ich stundenlang gelesen hatte und es nun schon nach 7 war- mich besuchen kommen?

Die Türe schob sich noch ein wenig weiter auf und Nolan kam in mein Zimmer. 
Im ersten Moment spürte ich die Vorahnung eines Gefühlsturmes in mir aufkommen, doch ich ließ es gar nicht erst so weit kommen und erstickte jedes Risiko auf einen Rückfall im Keim, indem ich meinen Blick abwandte und wieder auf die aktuelle Seite, die ich aufgeschlagen hatte, richtete. Bedächtig, beinahe konzentriert fuhr ich mit meiner Fingerspitze über das glatte Papier, strich über die Worte 'Dunkelheit' und 'verzweifelt'. 

"Miriam."
Ich blickte auf, aber auch nur, weil mich Jamie rief und nicht etwa Nolan. Meine Augen fokussierten sich auf sie und ich blendete alles andere um sie herum aus. 
"Ja?", fragte ich und Jamie warf mir einen Blick à la Verarsch-mich nicht zu. Anscheinend wollte sie das Spiel, dass es nur uns beide gab, nicht mitspielen.
"Ich lasse euch dann mal alleine."

Ich blinzelte komplex, als sie sich umdrehte, Nolan ins Zimmer stieß und die Türe hinter ihm schloss. Okay, wie es scheint wollte sie nicht nur beim Ignorieren mitmachen, sie stand sogar auf Nolans Seite. Diese kleine Verräterin werde ich mir wohl später vorknöpfen müssen, denn als erstes hatte ich etwas anderes zu Bewältigen. Etwas, mit dem ich mich eigentlich noch nicht auseinandersetzen konnte und wollte, weil ich die Wände, die alles in mir zusammenhielten, noch für zu dünn hielt. Es war zu gefährlich, mit ihm zu reden, ohne das mich seine Aussagen verletzen. Oder dass seine bloße Anwesenheit mich verletzte.

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