Kapitel 39

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Samstag war der erste Dezember. Rein theoretisch hatten wir noch 4 weitere Wochen, bis die Glocken den Weihnachtsmann oder das Christkind ankündigten. Praktisch hieß das für meine lieben Freundinnen, dass jeder Tag bis zu Weihnachten Weihnachten war. 
Das hatte ich wie jedes Jahr, seit ich am College war, auch dieses Jahr bemerken dürfen, als ich am Tag des ersten Advents gegen mittag aufwachte und ein zimtiger Geruch in der Luft lag.

Mit einem seligen Lächeln tauschte ich meinen roten Pyjama mit kleinen Rentier-Köpfen -eigentlich nur mit Rudolf, da mir duzende, kleine rot leuchtende Nasen entgegenblinkten- gegen einen hellgrauen Hoodie, der mir mindestens drei Größen zu groß war und einer dazu passenden Jogginghose, das meinen Penner-Look perfektionierte.
Ich schenkte meinem Spiegelbild ein breites, aufrichtiges Grinsen und fühlte mich gleich nochmal um einiges besser. So könnte jeder Tag beginnen.

Summend öffnete ich die Türe meines Zimmer und schnupperte an der Luft, die eine weitere Zimtwelle mitbrachte und meine Geschmacksknospen langsam erwachen ließ. Mir lief bereits das Wasser im Mund zusammen, doch mein Weg führte mich den Gang hinab ins Bad, wo ich mir erstmal ausgiebig die Zähne putzte, mein Gesicht wusch und anschließend mit Cremen verwöhnte und zum Schluss meine unfrisierten Haare zu einem Messi-Dutt hochband. 
Auch im Badezimmerspiegel warf mir mein Spiegelbild ein strahlendes Lächeln zu und ich fühlte mich so frisch und eingecremt wie neugeboren. 

Ich öffnete die Türe und huschte ins Wohnzimmer, wo ich erstmal vor Überraschen erstarrt stehen blieb und die sich vor mir darbietende Szene auf mich einwirken ließ.
In der anderen Ecke des Wohnzimmers stand zwischen den Fenster ein deckenhoher Tannenbaum, geschmückt mit weißen Lichterketten, Schokoschirmchen, lila und goldenen Girlanden, blauen und silbernen Kugeln in allen Größen und grünen Zuckerstangen. Und ganz oben zierte ein großer Stern die Spitze.
Der Baum sah aus, wie wenn man ihn verkehrt durch eine Kinderbastelwerkstatt gezogen hätte, doch mittlerweile war ich die quietschbunte Kreation von Valerie gewöhnt, so dass mich der Anblick vielmehr erfreute als abschreckte.
Auf dem gläsernen Tisch vor der Couchgarnitur stand ein süßer, wenn auch ein etwas seltsamer Adventskranz, auf dem die erste orangene Kerze bereits brannte, daneben stand ein Teller mit Zimt-Schoko-Plätzchen, gebacken von Jamie, wie jedes Jahr und zusätzlich noch eine einzelne, beige Kerze, die einen Orangen-Zimt-Geruch verströmte.

Alles war wie immer: heimelig, bequem, vertraut und absolut schrill und schräg. Doch das war nicht das, das mich zum Stehenbleiben und Starren brachte.
Das war vielmehr Nolan, der auf unserer Couch saß, vor ihm ein dampfender Becher selbstgemachter Weihnachtspunsch stehend, ebenfalls von Jamie, und seinen Blick auf mich gerichtet.

Meine Atmung wurde flacher und ich wurde vollkommen zur Salzsäule. Zumindest von außen, denn innerlich war ich gerade dabei zu hyperventilieren, an einem Herzinfarkt zu sterben, zu schreien und gleichzeitig zu lachen.
Ich konnte es nicht fassen, wie viele Gefühle Nolan gleichzeitig in mir erweckte. Oder wenn ich ehrlich zu mir selbst war und auch besser gesagt: ich konnte es noch immer nicht fassen. Schon die ganze Zeit über nicht...

"Miriam."
Die Art, wie er meinen Namen aussprach und dabei lächelte ließ mich wie eine Prinzessin fühlen. Seine bloße Anwesenheit ließ meine Haut kribbeln, seine Aufmerksamkeit, die er mir schenkte, ließ mich besonders fühlen.
Ich schluckte schwer und das Lächeln, das ich auf meinen Lippen spürte, war von ganz alleine auf sie gekommen. Es war nicht wie das Lächeln, das ich meinem Spiegelbild oder meinen Freundinnen, meinen Freunden oder meinen Dozenten schenkte. Das war ein Lächeln, das ihm ganz allein gehörte. Es fühlte sich auf meinem Mund genauso besonders und einzigartig an, wie ich mich in seiner Gegenwart fühlte.

"Nolan."
Sein Name kam beinahe gewohnt über meine Lippen, als hätte ich mich innerhalb der kurzen Zeit, die ich ihn kannte, schon besser kennengelernt als die meisten Personen in meinen Leben. Aber es war ohnehin sinnlos noch so zu tun, als wäre Nolan Ryder nicht wichtig für mich. Ich hatte von Anfang an gewusst, ja beinahe gefürchtet, dass da mehr sein könnte, denn dann würde ich meinen ersten Vorsatz brechen und meine Karriere riskieren. Ich hatte mich nicht in eine Situation bringen wollen, wo mir ein Junge wichtiger als meine Leistungen war, doch ich begann allmählich zu zweifeln.
Und tief in mir hatte ich von dem Moment an, in dem Nolan durch die Türen des Chemie-Saals getreten war und meine Präsentation gestört hatte, gewusst, dass er mehr als nur die Rolle des Störenfrieds in meinem Leben spielen würde.

Dann realisierte ich, in welchem Outfit ich mich ihm präsentierte und jetzt war es nicht nur mein Magen, der kribbelte, sondern auch meine Wangen.
Nolan stand auf und ich konnte nichts anderes tun, als wie versteinert dazustehen und zu beobachten, wie er um den kniehohen Tisch herum auf mich zu kam. Er ging langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Als würde er mir die Chance geben, mich umzudrehen und die Flucht zu ergreifen. Oder als wüsste er, dass ich exakt das nicht tun würde.

Direkt vor mir blieb er stehen und es bot sich mir eine wunderbare Aussicht auf seinen Oberkörper, der sich sichtbar unter seinem dünnen, weißen Shirt spannte. Ich sollte ihn schimpfen, dass er sich so rücksichtslos für die Jahreszeit kleidete, aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht dankbar für das Bild war, das er mir bot.

Ich schnappte leise nach Luft, als er seine rechte Hand hob und seinen Zeigefinger auf meine Wange legte. So blieben wir beide stehen, regungslos und wie erstarrt. Wir blickten uns an, als wäre es das einzige, was gerade zählen würde.
Und wie gern würde ich über meinen Schatten springen und mir wünschen, dass das das Einzige war, was gerade zählen würde.

Sein glühender Blick glitt über mein Gesicht, musterte jeden Millimeter.
"Du trägst kein Make-up."
Es war mehr eine Feststellung, doch ich nickte etwas verlegen. Das letzte, was ich wollte war, dass er mich ungeschminkt sah.
"Sieht man es etwa so offensichtlich?", fragte ich und konnte den bissigen Unterton in meiner Stimme nicht unterdrücken. Als Mädchen war Aussehen schon immer ein heikles Thema gewesen, aber nur die wenigsten wussten, wie sehr mich die Zweifel zerfressen hatten, weil ich auch noch rothaarig war. Ich hatte einfach schon immer herausgestochen. Die Menschen hatten mich gesehen, ob ich es wollte oder nicht.

"Nein", gab Nolan lächelnd zurück und strich mir meine Haare hinters Ohr. "Ich habe nur deine Sommersprossen bemerkt. Anscheinend hast du sie immer überschminkt, aber das solltest du nicht machen. Sie machen dich schön."
Er räusperte sich und wandte den Kopf zur Seite. "Also noch schöner, als du ohnehin schon bist...", murmelte er und ich riss meine Augen auf.
Hatte er mich gerade schön genannt?!

In dem Moment kam Jamie mit einem weiteren dampfenden Backblech voller Zimt-Kekse ins Wohnzimmer.
Sie trug die süße, rote Schürze mit dem Erdbeeren-Muster, die ich ihr voriges Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte und dazu ein Haarnetz und Handschuhe, die ihre Hände vor Verbrennungen schützen.
Kaum sah sie uns, blieb sie wie angewurzelt im Wohnzimmer stehen und blickte uns mit großen Augen an.
Das war der Augenblick, in dem mich die Realität einholte und die Seifenblase, die Nolan und mich umgeben hatte, zum Zerplatzen brachte. 

Ich sprang nach hinten und hob abwehrend meine Hände, bevor sie etwas sagen konnte.
"Es ist nicht so, wie es aussieht!", stotterte ich und blickte zwischen Jamie und Nolan hin und her, wobei mich letzterer mit einem wissenden Grinsen bedachte. Die Hitze, die meinen Magen brodeln ließ, wanderte hoch und ich hatte das Gefühl, rot wie eine Tomate zu werden.

Jamies Augenbraue wanderte unter den Ansatz ihrer Stirnfransen.
"Ich habe auch nichts gesagt", erwiderte sie, doch es klang, als hätte sie nur allzu gern eine Bemerkung abgelassen. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn ich wollte mir nicht mal vorstellen, wie das in ihren Augen aussehen mochte.

"Sollten die Jungs nicht erst am Nachmittag kommen?", fragte ich und lenkte das Gespräch geschickt in eine andere Richtung. Die Tatsache, dass Nolan mich ohne Make-up und in so einem Zustand sah versetzte mich in Aufruhr, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Es sollte mich nicht so aufwühlen, wie es es in Wirklichkeit tat.

Nolan räusperte sich.
"Also einer der Jungs steht direkt vor dir. Warum fragst du ihn nicht?"
Als ich kurz zu ihm blickte, sah ich ihn frech lächeln und richtete meine Aufmerksamkeit hastig wieder auf Jamie.
"Frag mich nicht", antwortete sie mir trotz Nolans Zwischenmeldung und schob die Kekse auf den Teller. "Er hat um 10 wie ein Irrer angeklopft und mich aufgeweckt. Gut, dass du ihn nicht gehört hast! Jedenfalls hat er dann Valerie beim Schmücken und mir beim Backen meiner Kekse geholfen."
"Das hat er?" Erstaunt blickte ich wieder zu Nolan, der beteuernd nickte und ich konnte den unsichtbaren Heiligenschein über seinem Kopf beinahe sehen.

Jamie blickte auf die Uhr und verschwand wieder in der Küche.
"Du solltest dich beeilen, wenn du nicht willst, dass dich die anderen sehen. Sie werden mit Valerie in einer halben Stunde circa kommen."
"Was?!" Schockiert sah ich ebenfalls auf die Uhr und die Zeiger hatten sich schneller bewegt, als mir lieb war.
"Aber ich habe noch nicht einmal was gegessen", jammerte ich vor mich hin, war jedoch schon am Weg zurück in mein Zimmer.
"Soll ich dir beim Umziehen helfen?", rief Nolan durch die Türe und mein Herz machte einen Satz.
"Nein, aber du kannst mir was zu Essen machen!"
Ein raues Lachen ertönte, das mir eine Gänsehaut bereitete.
"Ayay, Madam!"


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