Kapitel 42

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Seit Nolans und meiner Diskussion war ein abgekühltes Verhältnis zwischen uns entstanden, dass schon seit mehreren Wochen anhielt. Ich war nicht wenig überrascht gewesen, als er nicht versucht hatte, mir Verständnis für seine Engelssache aufzuzwingen, doch er schien meinen Ausbruch zu verstehen und wahrte Abstand.
Wahrscheinlich sollte ich damit zufrieden sein, denn endlich verlief mein Leben wieder normal und ich hatte meine Ruhe und niemanden, der mir dauernd hinterher lief und mir sagte, was ich tun und lassen sollte. Doch so war es nicht.
Seit Wochen fühlte ich eine untragbare Last auf mir, die mir mein Herz schwer machte. Außerdem war ich emotional unausstehlich geworden, selbst für meine Freundinnen.
Am Anfang hatten sie sogar versucht, mich zu trösten und für mich da zu sein, doch ich war die meiste Zeit so kratzig, bissig und gereizt, dass sie schließlich nicht mehr an meine Zimmertür geklopft, sondern mich in Ruhe gelassen hatten. So hatte sich ein Kreis der Isolation um mich gebildet, aus dem ich die ganze Welt heraus betrachtete, als wäre ich in einem Aquarium, gefüllt mit Wasser. Wenn jemand mit mir redete, hörte ich nicht zu, wenn jemand einen Witz machte, lachte ich nicht und wenn mich jemand fragte, ob ich etwas unternehmen wollte, dann gab ich genervte Absagen, so dass ich irgendwann nicht mehr gefragt wurde, ob ich etwas machen wollte. Schon bald war ich zu dem unausstehlichen, allein gelassenen Mädchen geworden, das ich nie sein wollte.

Der zurzeit einzige Lichtpunkt meines Lebens war Xavier.
Er war der einzige, auf den ich nicht wütend zu sein schien und er ertrug mein Leiden, war für mich da und sorgte mich um sich. Wir hatten uns beinahe jeden Tag getroffen und ich war schon mehr als ein Mal bei ihm gewesen -sein Mitbewohner war auch wahnsinnig nett, aber eher schüchtern und introvertiert- und wir hatten Filme zusammen gesehen und Eis gegessen. Er hatte mich auch öfters ausgeführt und hatte mir echt geholfen, über Nolan hinwegzukommen oder die Schmerzen, wenn ich an ihn dachte, zumindest zu lindern. Und dafür war ich ihm extrem dankbar.

In meinen schlaflosen Nächten hatte ich ihm geschrieben, erst zögerlich, weil ich ihn nicht belästigen wollte, dann immer öfter und schließlich jede Nacht, stundenlang. Irgendwann sind wir vom Schreiben zum Telefonieren übergegangen und das taten wir so oft, dass mir mein Handy seine Nummer bereits als Favorit anbot.

Bei ihm fühlte ich mich immer besser. 
Er erlaubte es mir, alles um mich herum zu vergessen, mich freier zu fühlen und zu lachen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es so weit schaffen würde, aber mit Xaviers Hilfe, der in diesen paar Wochen eine feste Stütze in meinem Leben geworden. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass sich unser Verhältnis in so kurzer Zeit derart besserte, aber ich konnte mit mittlerweile nur noch schwervorstellen, ihn nicht als Freund an meiner Seite zu haben.

Leider konnte Xaviers Anwesenheit Nolans Stimme nicht ganz aus meinem Kopf vertreiben und ich verabscheute ihn dafür, dass seine Stimme mir in den schönsten Momenten, die ich mit Xavier teilte, sagte, dass er böse war und dann alles ruinierte. Dann war die Stimmung immer vorbei, doch Xavier blieb ein Gentleman und fragte nie nach.
Es nervte mich einfach, dass Nolan nie richtig aus meinem Kopf verschwunden wollte. Er war immer da, obwohl er es nicht sollte und egal wie sehr ich versuchte, ihn zu vergessen, desto mehr dachte ich an ihn.

Der erste Weihnachtstag und damit der Tag, vor dem Nolan und ich unsere Auseinandersetzung hatten, lag Wochen zurück und es war Freitag, der Tag vor den Ferien und nur noch ein paar Tage vor Weihnachten.
Meine Freundinnen hatten für heute eine riesige Party in unserem Appartement geplant, so als Feier, dass Ferien waren. Ich glaubte, dass jeder Student am Campus von unserer Party wusste.
Ich hatte meinen Mitbewohnerinnen mitgeteilt, dass ich Xavier einladen würde und sie hatten widerwillig zugestimmt. Sie und die Jungs hatten eine generell gespaltenen Meinung über Xavier: einige mochten ihn, andere fanden ihn zwiespältig und waren misstrauisch. Doch sie konnten so oder so nichts sagen, denn da es auch mein Appartement war und ich eine der Gastgeberinnen war, stand es mir frei, einzuladen wen ich wollte.

Ich stand in meinem Zimmer vor meinem Spiegel und betrachtete mein Party-Outfit. Im Hintergrund konnte ich die Party-Musik, gemischt mein ein paar lauteren Stimmen hören. Anscheinend war die Feier schon in vollem Gange.

Gedankenverloren strich ich mir über meinem braunen Strickpullover, der in meinem kurzen, schwarzen Rock steckte. Die Kombination mit den schwarzen Overknees sah super aus, aber ich war mir nicht sicher, ob das nicht zu sexy aussah und ob ich stattdessen nicht eine Jeans oder so anziehen sollte.
Doch dann schüttelte ich den Kopf und schenkte meinem Spiegelbild einen herausfordernden Blick.

Meine kornblumenblauen Augen strahlten mir hell und klar entgegen. Ich hatte sie nur zart mit einem hellbrauen-goldigen Lidschatten geschminkt und getuscht und das Ergebnis war atemberaubend. Meine Augen hatten eine vollkommen andere Ausstrahlung und ich wirkte eher verwegen als deprimiert und verzweifelt, so wie ich mich gerade noch gefühlt hatte.
Meine Wangen leuchteten zartrosa und ich hatte mir einen braun-glitzernden Lipgloss auf meine Lippen gestrichen, die meine Arbeit perfektionierten.
Ja, ich war wirklich glücklich mit meinem Ergebnis und fühlte mich stark und vollkommen.

Ich öffnete die Türe meines Zimmers und trat heraus.
Der Gang war wie gewohnt voll mit Schuhpaaren aller Art und als ich kurz ins Wohnzimmer blickte, konnte ich nur noch die Spitze des Weihnachtsbaumes sehen, der hinter der tanzenden Menschenmasse aufragte.

Eigentlich wollte ich auch tanzen, doch ich spürte die heiße, stickige Luft jetzt schon und entschied mich dafür, erst etwas zu Trinken. Nüchtern würde ich es da drinnen nicht lange aushalten, bevor ich kollabieren würde.
Also bog ich ab in die Küche, wo jede Fläche, auf der man etwas gefahrenlos abstellen konnte, beladen war mit roten Plastikbechern.
Auch auf dem Boden lagen schon einige, aber die waren zum Glück alle leer.
Auf den Küchenhockern saßen mehrere Menschen, die ich allerdings nur vom Sehen kannte. Trotzdem begrüßten sie mich alle, als sie mich sahen, ehe sie sich wieder in ihre Gespräche vertieften.
Ich sammelte die Becher  vom Boden auf und stapelte sie in einer Ecke, ehe ich mir selbst einen der Becher nahm und einen Schluck trank.

Sofort verzog ich das Gesicht. Rotwein.
Wahrscheinlich hätte ich besser zuerst schauen sollen, was ich da eigentlich trank, denn dann hätte ich nicht den Fehler gemacht, diesen ekeligen Wein zu trinken.
Angeekelt stellte ich den Becher zurück in die Menge der anderen mit dem Wissen, dass den irgendjemand im Laufe des Abends noch austrinken würde.

Summend betrachtete ich die Flüssigkeiten der Becher und war beeindruckt, dass fast keine der Farben zweimal vorkam und es so viele verschiedene Farbtöne hatte.
Schließlich entschied ich mich für eine champagnerfarbene Flüssigkeit und ich war wirklich glücklich, dass es nur Champagner war und sonst nichts. Auf unseren Partys konnte man das ja nie wissen...

Während ich an der prickelnden Flüssigkeit nippte, lehnte ich mich an den Herd und beobachtete durch die Türe hindurch die tanzenden Menschen, die sich zu lauter Musik bewegten und die Texte mitsangen. 
Ich erstarrte, als ich Daemon sah, der eng umschlungen mit Jamie tanzte. Gerade beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie ihre Arme um seinen Hals schlang und sich an seine Brust schmiegte.
In dem Moment trafen sich Daemons und meine Augen und er flüsterte Jamie noch etwas ins Ohr. Sie versteifte sich kurz, warf einen Blick über ihre Schulter in meine Richtung und blickte mich an. Ich versuchte mich an einem Lächeln, das sie unsicher erwiderte und sich dann wieder wegdrehte. Dann nahm sie Daemon an der Hand und beide verschwanden aus meinem Sichtfeld.
Seufzend wandte ich den Blick ab.

In dem Moment sah ich Xavier, der mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen lehnte, der zum Flur führte. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete er mich und ich hegte den Verdacht, dass er schon länger dastand und mich anschaute.

"Hey!", rief ich erfreut aus und meine Stimmung hob sich augenblicklich. So war das jedes Mal, wenn ich Xavier sah. Rein theoretisch war er überhaupt der Grund, warum ich lächelte und glücklich war.
"Hey." Er kam auf mich zu und stellte ein Sackerl, das er in der Hand getragen hatte, auf den Herd, ehe er mich in eine Umarmung zog und mir einen Kuss auf die Wange drückte. Seine Berührung löste ein schwaches Kribbeln in meiner Magengegend aus und ich strahlte ihn an.

"Was hast du da denn mitgebracht?"
Er grinste schelmisch. "Ach, ich dachte nur, dass so schwache Getränke wie Champagner und Wein langweilig wären, wenn das doch eine Party für den Beginne der Ferien ist, also habe ich etwas Besonderes mitgebracht."
Er ließ mich los, um das Sackerl zu öffnen und eine Flasche herauszuholen. Grinsend schwenkte er die Flasche mit der durchsichtigen Flüssigkeit vor meinen Augen hin und her und ich spürte, wie mein Mund vor Aufregung trocken wurde.
Er hatte Recht. Das war das, was dem Abend gefehlt hatte, um wirklich gut zu werden.
"Tequila."

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