Kapitel 6

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Kapitel 6 

 Hermine hatte Snape kurz darauf in seinem Refugium zurückgelassen und war – nur von dem aus ihrer bloßen Vorstellung erschaffenen Schild geschützt – zurückgekehrt in das Gewirr von Erinnerungen, die aus Malfoys Käfig entkommen waren, als er gestorben war. 

 Sie wäre gern am nächsten Tag zurückgekehrt, um den neuen Käfig zu erschaffen, der Snape aus seiner Isolation holen sollte. Sie hätte sich gern besser darauf vorbereitet. Aber das Ministerium schwebte über ihr wie ein Damoklesschwert und so beschloss sie, es gleich zu versuchen. Wenn der erste Versuch misslingen sollte, konnte sie immer noch eine Pause machen und später zurückkommen. 

 Die hochenergetischen Erinnerungen begannen sie sofort zu umschwärmen wie Fruchtfliegen reifes Obst. Hermine war überwältigt von dem Anblick und schaffte es nicht, ihren Schild weiter auszudehnen. Eher kam es ihr vor, als würde er immer mehr schrumpfen. Sie stemmte sich gegen die Macht der Erinnerungen, aber sie war nicht geübt im Umgang mit Legilimentik! Wenn Snape sie nicht eingeladen hätte, wäre sie niemals in seinen Geist gelangt. Sie waren so stark! Hermine hörte sich keuchen, ihr Puls rauschte in ihren Ohren, das war ... einfach zu viel! 

 Sie war die Falsche für diese Aufgabe! 

 Der Gedanke überkam sie so plötzlich, dass es ihr die Luft abschnürte. 

 Aber dann zwang etwas die Erinnerungen dazu, Abstand zu ihr zu halten. Hermine konnte ihren Schild etwas ausdehnen und holte gierig Luft. Sie spürte ein leichtes Zupfen an ihrer Hand, eine schwache Form der Kraft, die sie durch Snapes Geist geführt hatte. Sein Unterbewusstsein, wie sie vermutete. Es war, als wollte es sie ermuntern und daran erinnern, dass sie dieser Aufgabe nicht allein gegenüberstand. 

 Hermine lächelte und eine Welle von Erleichterung durchfuhr sie. Eigentlich war sie hier, um Snape wissen zu lassen, dass er nicht alleine war; dass sein Unterbewusstsein ihr diesen Gefallen nun erwiderte, war so unerwartet wie willkommen. 

 „Kannst du mich an einen Ort bringen, an dem Platz für den Käfig ist?", fragte sie und hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, da fühlte sie sich wieder durch Snapes Geist gezogen. Die Erinnerungen folgten ihr auf dem Fuße, aber für einen Moment hatte sie fast so etwas wie klare Sicht. Nur vereinzelte Erinnerungsfäden schwebten vor ihr her, allesamt weniger energetisch als ihre aufdringlichen Geschwister. 

 Schließlich verschwand das Ziehen und wenn Hermine es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, sie wäre nur einmal im Kreis geführt worden. Es sah hier genauso aus wie dort. Aber anscheinend gab es im Geist auch keine Grenzen außer denen, die man sich selbst setzte. Snapes Unterbewusstsein war offensichtlich der Meinung, dieser Ort hier wäre besser als der vorherige und sie würde nicht daran zweifeln. 

 „Also gut ...", murmelte sie, die Sicht längst wieder versperrt von Erinnerungsfäden. Hermine betrachtete sie einen Moment lang. Sie waren eine rote Wand vor ihr, wanden sich in- und umeinander wie Würmer in einem Topf. Sie hätte nicht mal sagen können, ob es zehn, zwanzig oder fünfzig waren. Der Anblick war beklemmend und so schloss sie die Augen. Das machte es ihr ohnehin leichter, sich zu konzentrieren. Sie holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. 

 Okay. 

 Okay okay okay. 

 Das alles war reine Vorstellungskraft. Nichts, das ein Buch sie lehren konnte. Und sie hatte doch eine gute Vorstellungskraft. Wenn sie las, spielte ein Film in ihrem Kopf. Sie war schon auf Drachen geflogen und hatte böse Magier besiegt, bevor sie nach Hogwarts gekommen war. Sie konnte das. Sie hatte sogar schon bewiesen, dass sie es konnte. Das Licht, ihre Gestalt, Snapes Gestalt ... Sie konnte das. 

Medicus IIIWhere stories live. Discover now