Kapitel 35

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Kapitel 35

Die Nacht war endlos.

Hermine verlor jedes Zeitgefühl, während ihr Geist sie von einem Traum in den nächsten jagte. Nicht alle waren die Art Albträume, vor denen es ihr graute; davon zu träumen, wie sie einen wichtigen Termin verpasste, weil sie einfach nicht vom Fleck kam, oder wie Archie Barber die toten Augen öffnete und ihr sagte, das Ministerium wüsste alles und sie würden kommen, um sie zu verhaften, war eine Art Pausenprogramm, das ihr Geist ihr vereinzelt zugestand.

Dazwischen quälte er sie mit dem Wald, dem Wald und immer wieder dem Wald. Hermine war überzeugt, sie würde niemals wieder einen Wald betreten können, ohne Panik zu bekommen.

Einmal wurde sie wach, schaffte es aber nicht, ihre Augen zu öffnen. Sie sah die Spitze des Messers vor ihrem Gesicht blitzen und spürte die Fesseln auf ihrer Haut. „Mach sie ab!", hörte sie sich keuchen.

„Was soll ich abmachen?"

„Die Fesseln! Mach mich los! Hilf mir!" Sie kämpfte gegen die Fesseln, die ihr in die Handgelenke schnitten, sie konnte sie spüren.

„Deine Hände sind frei, Hermine. Öffne deine Augen!"

„Ich kann nicht", hauchte sie. Wenn sie die Augen öffnete, dann würde sie Ron nicht mehr sehen können. Dann würde sie nicht ausweichen können, wenn er ...

„Mach die Augen auf!"

So laut, dass sie erschrak. Und Hermine tat, was über sechs Jahre Unterricht bei Severus sie gelehrt hatten: Genau das, was er sagte. Sie japste, als wäre sie gerade einen Sprint gelaufen. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Severus' Gesicht war neben ihr, das Licht seiner Nachttischlampe glänzte in seinen Augen. Ein paar Sekunden lang bewegten sie sich beide nicht, dann zog er seine Hand zurück und Hermine war überrascht, dass er sie berührt hatte. Sie hatte es nicht gemerkt. Tat es auch jetzt nicht. Das Einzige, was sie spürte, waren diese verdammten Fesseln.

Sie setzte sich auf und rieb sich die Handgelenke. Sie taten weh und fühlten sich wund an, obwohl nichts zu sehen war. Sie drehte die Hände, weil sie hoffte, dass das dieses Gefühl beseitigen würde. Dieses Gefühl, als würden die Fesseln ihr gleich die Handgelenke brechen.

Sie wischte sich über das Gesicht und durch die Haare, Tränen brannten in ihren Augen. „Ich komm gleich wieder", murmelte sie, stand auf und stolperte durch das Halbdunkel ins Bad hinüber. Sie ließ die Tür offen, damit sie ein bisschen Licht vom Schlafzimmer hatte; mehr konnte sie nicht ertragen, sie hatte so schon Kopfschmerzen.

Hermine drehte das Wasser so kalt es ging, und ließ es sich über die Handgelenke laufen, bis sie den Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Das war ein anderer Schmerz, ein realer, aktueller. Ein Schmerz, der die Vergangenheit unter sich begrub.

Schließlich drehte sie das Wasser ab und setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel. Der Wald war ihr noch immer so nah, dass sie glaubte, das Rauschen der Bäume hören zu können. Sie hatte den Geruch des Baumharzes in der Nase, genauso wie den ihres eigenen Blutes. Mit den eiskalten Handballen rieb sie sich über die Augen, bis sie Sterne sah. Dann verbarg sie ihr Gesicht hinter den Händen und weinte ein paar Tränen der Erschöpfung. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Komm wieder ins Bett."

Sie zuckte heftig zusammen. Severus hockte vor ihr und sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Gleich", sagte sie leise. Sie versuchte, die Tränen aus ihrer Stimme fernzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Sie wandte den Blick ab, presste sich eine zitternde Hand vor den Mund. Und so überraschte es sie, als Severus seine Hand auf ihre Schulter legte und sie sanft zu sich zog. So sanft, er wartete erst ihre Erlaubnis ab, denn sie hätte sich problemlos dagegen wehren können. Aber sie ließ es geschehen.

Medicus IIIWhere stories live. Discover now