Kapitel 1.4

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~Seth

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Rot leuchtende Funken sprühten aus ihnen hervor, während ich mich langsam umdrehte.
Und da stand er. Vor mir stand der Mann, der vor so vielen Jahren bereits an dieser Stelle hätte stehen sollen. Ich hatte mir diesen Moment schon so oft ausgemalt. In den meisten Fällen hatte es damit geendet, dass ein Haufen Blut geflossen war, das nicht mir gehört hatte, jetzt aber konnte ich ihn einfach nur anstarren. Mein Puls schoss in die Höhe, ein Schwall von Emotionen überwältigte mich. Wut, Hass, Schock- alles prasselte auf mich ein, während ich den Blick einfach nicht vom Gott der Unterwelt abwenden konnte. So gerne ich ihm diese Genugtuung auch genommen hätte. Ich konnte es einfach nicht.

Er war größer als ich- sehr viel größer, mindestens zwanzig Zentimeter. Seine Augen, in denen sich für mich undeutbare Gefühle widerspiegelten, hatten die eisblaue Farbe eines Bergsees, seine Haut war ebenso blass wie meine und auch die Gesichtszüge kamen mir teilweise viel zu bekannt vor. Das schwarze Haar glänzte im Licht petrolfarben, wie das Gefieder eines Raben und fiel gewellt auf seine Schultern. Schwarze Kleidung, viel Leder. Er trug sogar verdammte Doc Martens.

Das musste ein schlechter Witz sein, aber es fühlte sich zu real an. Das war kein Traum. Er war wirklich hier. Hades, Gott der Unterwelt. Mein Vater.
Vater... Seltsamer Ausdruck für einen Mann, der nicht viel älter aussah, als ich selbst. Seltsamer Ausdruck für einen Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Meine Hände krampften sich so fest zusammen, dass nicht viel fehlte und ich würde mir selbst die Fingerknochen brechen. Irgendwie brachte ich so etwas wie ein abwertendes Lachen zustande.

,,Du hast vielleicht Nerven, hier aufzukreuzen."

Hades musterte mich noch weiter. So intensiv und durchdringend, dass ich mich fragte, ob er jemals wieder damit aufhören würde. Dann aber lächelte er. ,,Oh, ich bin ein Gott, werter Sohn. Ich habe die stärksten, besten, glänzendsten Nerven, die du dir vorstellen kannst."
Und ich hatte die stärksten, besten, glänzendsten Faustschläge, die er sich vorstellen konnte. Was erwartete er? Dass ich ihm in die Arme fallen und für seine Anwesenheit danken würde, nachdem er götterverdammte neunzehndreiviertel Jahre nichts von sich hatte hören lassen?

,,Warum jetzt?", fauchte ich. ,,Warum jetzt, nach all den Jahren?!"

,,Hör zu, Seth." Hades trat einen Schritt auf mich zu, blieb allerdings stehen, als ich abwehrend den Arm ausstreckte.  ,,Ich werde mich nicht entschuldigen und ich werde es auch nicht schön reden. Es wurde entschieden, dass wir uns von unseren Kindern fernhalten sollen. Zeus wird mich für diesen Besuch vermutlich schon in den Arsch treten."

Ich ließ den Arm sinken und wollte einen Schritt zurück treten. Allerdings befand sich direkt hinter mir die Fensterbank, die mich am Abstand schaffen hinderte. Ich lehnte mich dagegen, eine Geste, die auf meinen Gegenüber möglicherweise lässig wirken mochte, in Wahrheit suchte ich gerade Halt und war immer noch völlig überrumpelt.
Ich konnte einfach nicht fassen, dass mein Vater wirklich hier war.

,,Klingt nach Spaß. Darf ich mitmachen?"

Hades stieß langsam die Luft aus. Er hatte starke Nerven? Das würde ich gleich mal gründlich austesten.

,,Ich glaube, mir gefällt dein Ton nicht, werter Sohn." Hades' Stimme klang ruhig. Tief. Beinahe beruhigend. Wirklich beruhigen tat ich mich allerdings nicht, lediglich der Schock ließ langsam nach. Mein Puls hämmerte allerdings immer noch wie verrückt.

,,Mir gefällt deine Anwesenheit nicht. Fusionieren wir doch die gegebenen Umstände, indem ich dich höflich bitte, meine Wohnung zu verlassen", schlug ich angespannt vor, während ich meine Hand wieder zur Faust ballte. Vielleicht sollte ich mir zum Geburtstag einen mit Mehl gefüllten Anti-Stress-Ball schenken lassen.
Der Gott ließ seine Fingerknochen knacken. Eine Angewohnheit, die mich so sehr an mich selbst erinnerte, dass es verstörend war, meinem... Vater dabei zuzusehen. ,,Eine großartige Idee", erwiderte er,  ,,aber das wäre zu einfach."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt