Kapitel 10.2

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~Cleo

Was er tut oder wie er leben möchte, entscheidet er ganz allein. Runes letzter Satz widerholte sich in Dauerschleife in meinen Gedanken. Hieß das, dass Seth vollkommen er selbst war? Dass er tatsächlich ein Rebell sein wollte? Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und starrte frustriert auf den Boden. Was würde ich tun, wenn ich Seth gegenüber stand und er ein Rebell war? Wie fühlte sich das an? Wie zur Hölle kam man damit klar? Wie kam er damit klar?

Ein Kind, so voller Wut und Hass, dass es gefundenes Futter für das Vasanistenvirus war. Seth mochte Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen haben, dennoch lag die Schuld nicht nur bei ihm. Er hatte mir seine Vergangenheit anvertraut. In seinem Leben waren viele Dinge falsch gelaufen. Ich beschleunigte mein Tempo. Der eisige Wind peitschte mir ins Gesicht, einzelne Schneeflocken mischten sich darunter. Ehe ich ein weiteres Mal darüber nachdenken konnte, steuerte ich auf das Wohnheim des männlichen Geschlechts zu. Wärme schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete und eintrat. Auf dem Gang begegnete ich niemandem, die meisten Schüler waren wohl noch im Unterricht. Vor der Tür zu Seths Wohnung blieb ich stehen. Mein Herz pochte. Was tat ich hier? Zögerlich streckte ich den Arm aus und drückte die Klinke nach unten. Knarzend öffnete sich die Tür, ich trat ein und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Als ich meinen Blick durch die Wohnung gleiten ließ, zog sich mein Brustkorb schmerzhaft zusammen. Hier hatte sich nichts verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Die Zeichnungen und Poster an den Wänden, die unzähligen CD Stapel, die Gitarrensammlung weiter hinten im Raum. Und in dem Käfig saß... Skotádi? Ich riss die Augen auf. Seth hatte Skotádi zurückgelassen? Wehleidig krächzend sah der Vogel zu mir und schüttelte die leuchtend grünen Federn. Ich ging auf den Käfig zu, in der Hoffnung, dass mich der Vogel nicht zerfleischte. Die meiste Zeit hatte Sko mich gemocht, aber bei ihr konnte man sich nie sicher sein. Das Türchen stand offen, neben dem Käfig befand sich ein ebenfalls geöffneter Futtersack. Verhungert wäre sie also nicht, dennoch... Seth hatte sie einfach zurückgelassen. Skotádi breitete die Flügel aus, erhob sich in die Luft und landete auf meiner Schulter. Ich zuckte zusammen, aber der Vogel tat mir nichts. Sie stupste mich mit dem Kopf an, woraufhin ich zögerlich den Arm hob und mit den Fingern über ihre grünen Federn strich. ,,Hat er dich einfach allein gelassen, hm?", murmelte ich, während ich sie gedankenverloren am Kopf streichelte.

,,Arschloch", krächzte sie empört.

Das brachte mich kurz zum Schmunzeln. ,,Ja, das ist er", stimmte ich ihr zu.

Ich hätte verdammt nochmal einfach bei meinem ersten Eindruck von ihm bleiben sollen. Ein arroganter Vollidiot, mit dem ich nicht mehr zu tun haben wollte, als unbedingt nötig. Über die Zeit hatte ich allerdings angefangen ihn zu mögen und jetzt fragte ich mich, ob ich ihn überhaupt jemals gekannt hatte. Ich ging weiter nach hinten in den Raum und ließ meinen Blick über die Wand gleiten. Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus, als ich die Bilder von Matt und Seth sah. Die meisten zeigten sie auf Konzerten oder Festivals, beim Campen oder in der Menschenmenge. Ich entdeckte ein älteres Bild, auf dem beide wesentlich jünger aussahen. Ein junger Seth mit einem Gesicht voller Piercings, der grinsend den Arm um einen Sonnenbrille-tragenden Matt gelegt hatte. Mein Herz krampfte sich zusammen. Bei den Göttern, ich vermisste sie. Alle beide. Skotádi knabberte an meinem Ohr herum und schob den Kopf in meine Haare. Bei Seth hatte sie das auch immer getan, solange sie mich nicht auffraß, hieß das wohl, dass sie mich mochte. ,,Ach Sko", seufzte ich und sah den Vogel an. ,,Was mache ich denn jetzt?"

,,Hunger!", kam die prompte Antwort. Unwillkürlich musste ich grinsen. Ich riss mich von dem Bild los und ging wieder zurück. Dort nahm ich ein Korn aus der Schale neben Skotádis Käfig und reichte es ihr.

Schien, als hätte ich soeben einen vaterlosen Papagei adoptiert. So schnell konnte es gehen. Mit einer krümelnden Skotádi auf meiner Schulter, ging ich zum Fenster und nahm die Gießkanne, die darunter stand. Ich goss Seths Pflanzen. Keine Ahnung, warum ich das tat. Vielleicht, weil ich Mitleid mit dem krepierenden Grünzeug hatte, aber ich gab jeder von ihnen Wasser. Erst dann konnte ich mich langsam losreißen. Ich verließ Seths Wohnung, mitsamt Käfig, Vogelfutter und Vogel auf der Schulter. Als ich damit über den Campus lief, warf man mir befremdliche Blicke zu. Ich ignorierte sie. Kurz bevor ich mein Wohnheim erreichte, kam zufällig Chris durch die Tür. ,,Hi." Ein schwaches Grinsen umspielte ihr Gesicht, während sie mir die Tür aufhielt. ,,Bekommen wir eine neue Mitbewohnerin?"

,,Ja." Verlegen blieb ich vor ihr stehen. ,,Ich hoffe, das ist in Ordnung? Ich... ich wollte sie nicht allein lassen."

Chris betrachtete Skotádi, die gerade versuchte, sich in meinen Haaren zu verstecken. ,,Natürlich ist das in Ordnung."

Ich zwang mich zu einem kurzen Lächeln. ,,Danke."

,,Ist doch selbstverständlich." Sie klopfte mir auf die Schulter. Ich schob den Käfig ins Gebäude, woraufhin Chris mir nochmal zuwinkte und schließlich die Tür ins Schloss fallen ließ. Ich strich Skotádi über den Kopf. ,,Dann wollen wir's dir mal gemütlich machen."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt