Kapitel 9

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~Cleo

Nach einigen Tagen fand wieder Unterricht statt. Es hatte noch einen weiteren Fall einer Schülerin mit mäßig intakter Seele gegeben, aber langsam kehrte wieder der Alltag ein. Ein Alltag, in dem sich alle zu misstrauen schienen. Als ich den Klassenraum betrat, war die Atmosphäre angespannt, es wurde weniger gesprochen als sonst und die Schüler musterten sich gegenseitig, als würde sie im nächsten Moment jemand anspringen, um ihnen die Seele auszusaugen. Ich ließ mich auf meinen Stuhl neben Chris fallen und streckte die Beine aus. ,,Cleo", sagte sie und drehte sich in meine Richtung. ,,Herzlichen Glückwunsch, anscheinend bist du kein Vasanist. Das haben unsere lieben Mitschüler bereits mit ihrem Röntgenblick abgescannt." Sie nickte in Richtung der anderen, die betroffen den Blick von mir abwandten, als ich sie ansah. Unwillkürlich musste ich grinsen, auch wenn ich lieber den Kopf geschüttelt hätte. ,,Da bin ich aber beruhigt."

Sie bückte sich, um einen einzelnen Kugelschreiber aus ihrem Rucksack zu nehmen und deutete mit diesem Richtung Tür. ,,Oh sieh mal, da ist Dawson. Meinst du, er übersteht die kritische Begutachtung?", fragte sie mit dramatisch gesenkter Stimme. Gerne hätte ich darauf geantwortet, aber ich war bereits damit beschäftigt, zur Tür zu starren. Mein Herz pochte wie verrückt, als mein Blick auf den großen Halbgott traf, der lässig, wie immer sämtliche Blicke ignorierend, durch das Klassenzimmer schlenderte. Ich wollte zur Seite sehen, stattdessen glotzte ich ihn an. Er trug schwarz, mit Ausnahme von strahlend weißen Sneakern, was seine Haut blasser wirken ließ, als sie eigentlich war. Silberne und schwarze Haarsträhnen hingen ihm zerzaust ins Gesicht und streiften sein Kinn. Als er näher kam, konnte ich ihm in die smaragdgrünen Augen blicken. Ein wohliger Schauer fuhr mir über den Rücken. Zum Teufel mit dieser Dawson-Grippe. Ich verpasste mir spontan eine Ohrfeige, was mir einen befremdlichen Blick von Chris einbrachte. ,,Alles in Ordnung bei dir?", erkundigte sie sich belustigt.

,,Da war eine Mücke", erklärte ich. Wer kannte sie nicht, die Dezember-Mücken. Als ich den Kopf drehte, lief Dawson bereits um unsere Tischreihe herum und ließ sich schließlich auf den Stuhl neben mir fallen. Er hatte sich noch immer keinen neuen Sitzplatz gesucht und ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht fand. Nervös wippte ich mit dem Fuß auf und ab, während ich angestrengt auf den Tisch starrte.

,,Hey Strafarbeit." Dawson klopfte mir auf die Schulter, was mich dazu brachte, meinen Fuß noch hektischer auf und ab zu bewegen.

,,Hey Hasi", brachte ich hervor.

Er legte einen Arm über meine Stuhllehne und schlug die Fußknöchel übereinander. Bei den Göttern, konnte er sich keinen anderen Platz suchen? In einer anderen Zeitzone, möglicherweise? Zu allem Überfluss lehnte er sich dann auch noch in meine Richtung. ,,Sie haben heute morgen noch jemanden gefunden", raunte er mir zu.

Was ich vor etwa zwei Wochen noch extrem schockierend gefunden hatte, entlockte mir nur noch ein Seufzen. Wir haben jemanden gefunden. Schon wieder. ,,Die Internatsleitung überlegt, ob sie Untersuchungen sämtlicher Bewohner des Internats anordnen soll. Man hofft, dass man so jemanden findet", erzählte er weiter. Ich hörte damit auf, nervös mit dem Fuß zu wippen und vergaß einen Moment meinen lächerlichen Teenie-Crush auf ihn. ,,Was?"

,,Die Internatsleitung überlegt-", wiederholte er, als würde er zu einem schwerhörigen Kind sprechen.

Ich boxte ihn in die Seite. ,,Das habe ich schon verstanden."

,,Den Eindruck hatte ich nicht."

Ich schüttelte den Kopf. Oh, warum ihr Götter, warum er? ,,Das können sie nicht tun", brachte ich hervor. ,,Wollen sie uns wirklich untersuchen, als wären wir Laborratten?"

Dawson zuckte mit den Schultern. ,,Gäbe es eine andere Möglichkeit, würden sie das nicht tun. Solange Blondchen nicht in der Lage ist, den Vasanist ausfindig zu machen, bleibt uns nicht viel anderes übrig."

Was er sagte stimmte, aber dennoch... Diese ganze 'Es-könnte-jeder-sein'- Mentalität machte mich fertig. Die Tür öffnete sich erneut und der Lehrer betrat das Klassenzimmer. Er begann mit dem Unterricht, als wäre nie etwas geschehen und vielleicht war es das Beste so. Weitermachen, irgendwie, als liefe auf diesem Internat niemand herum, der sich an Schülerseelen vergriff.

Der Unterricht verging erstaunlich schnell. Als die Stunde beendet war und ich das Klassenzimmer verließ, erblickte ich Esme auf dem Flur. Sie trug einen bauchfreien Hoodie, Shorts und kniehohe Schnürstiefel. Bei ihr schien das eine Art wintertaugliches Outfit zu sein.

,,Hi Cleo", begrüßte sie mich lächelnd.

Ich lächelte zurück, obwohl ich mir sicher war, dass ich wusste, weshalb sie vor diesem Klassenzimmer stand. ,,Hey."

In diesem Moment lief Dawson an mir vorbei, zog Esme in eine Umarmung und küsste sie. In meinem Brustkorb krampfte sich etwas zusammen und ich ballte die Hand zur Faust. Oh Götter, ich wusste, dass Dawson und Esme... aber sie so zusammen zu sehen, war nochmal etwas anderes. Verdammt. Ich zwang mich dazu, den Blick abzuwenden- stattdessen traf er auf einen blonden Gott, der ebenfalls Esme und Dawson anstarrte. Welch ein mieses Timing. Seth ballte die Hand zur Faust, ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. Kurz befürchtete ich, er würde Dawson im nächsten Moment mit seinem Feuer brutzeln, dann aber lockerte er die verspannten Schultern und ging in schnellen Schritten weiter. Da ich nicht länger wie eine seltsame Stalkerin daneben stehen wollte, machte ich mich ebenfalls aus dem Staub.

Neben der Eifersucht hatte sich noch ein weiterer Gedanke in meinem Kopf eingenistet. Wollte ich überhaupt, dass jemand -sei es nun Dawson oder nicht- mich auf diese Weise berührte? Ich hatte einen eigenartigen Crush auf Dawson, aber die Vorstellung ihn zu küssen oder... anderes fand ich mehr als befremdlich. Vorstellungen dieser Art hatte ich schon immer befremdlich gefunden. War das normal, weil ich noch nie in meinem Leben jemandem näher gekommen war? Ich runzelte die Stirn. Und plötzlich kam mir eine Idee. Die wohl schlimmste, die ich in meinem Leben jemals gehabt hatte. Aber sie könnte funktionieren- theoretisch. Auch wenn ich mich danach mit hoher Wahrscheinlichkeit im Boden vergraben wollte.

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt