Kapitel 14.6

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~Seth

,,Ja", krächzte ich. Meine Ohren rauschten und jeder Herzschlag schien meinen Körper erzittern zu lassen. Die Pflegerin nickte langsam und der kühle Gesichtsausdruck wich einem kurzen Lächeln. ,,Die OP wurde erfolgreich beendet. Sie hat es geschafft."

Sie hat es geschafft. Die Anspannung wich von mir wie eine tonnenschwere Last, die von mir abfiel. Beinahe hätte ich die Pflegerin umarmt. Ich atmete tief ein und stieß die Luft aus. ,,Ihr... ihr geht es gut?", hakte ich vorsichtig nach.

,,Nun, gut vielleicht nicht." Erneutes kurzes Lächeln. ,,Aber sie kommt durch. Geben Sie ihr noch eine Stunde, dann können Sie zu ihr."

,,D-Danke", murmelte ich.

,,Wir sagen Ihnen Bescheid, sobald Sie zu ihr können." Sie nickte mir noch einmal kurz zu und ging dann weiter. Lysanna würde nicht sterben. Sie hatte es geschafft. Meine Beine verweigerten mir endgültig ihren Dienst und ich ließ mich wieder in den Stuhl fallen. Ich würde Lysanna nicht verlieren.

Die nächste Stunde schien sich nochmal ewig in die Länge zu ziehen. Zwar wusste ich nun, dass Lysanna die OP überstanden hatte, aber so richtig glauben wollte das mein Hirn erst, wenn ich sie selbst gesehen hatte. Nach etwa einer Stunde, die sich wie mindestens drei anfühlte, kam schließlich ein Pfleger auf mich zu. ,,Sie können nun zu ihr. Folgen Sie mir."

Ich folgte ihm in einen anderen Gang. Er lief viel zu langsam. Ungeduldig stiefelte ich neben ihm her, bis er schließlich endlich hielt und eine Tür öffnete. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Dort lag sie- die Augen geschlossen, aber das Gerät neben ihr zeichnete den gleichmäßigen Herzschlag auf. Weil sie lebte. Der Pfleger nickte mir zu und ging anschließend, während ich mich dem Bett näherte und daneben zum Stehen kam. Lysanna hatte die Augen geschlossen, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich stetig. Sie wirkte furchtbar blass, ihre Hautfarbe schien sich kaum vom Weiß der Bettwäsche zu unterscheiden. Nur das schrille Neonviolett ihrer Haare setze einen scharfen Kontrast.

Sie öffnete ein eisblaues Auge und kurz darauf das andere. Desorientiert starrte sie mich an. ,,Fuck, bin ich im Himmel?"

Ein heiseres Lachen entwich mir. ,,Nein, du bist noch ziemlich lebendig."

Sie blinzelte irritiert und machte Anstalten sich aufsetzen zu wollen, woran ich sie hinderte, indem ich sanft ihre Schulter nach unten drückte. ,,Warum spreche ich dann mit einem Engel?"

Ich musste grinsen, ließ ihre Schulter los und griff stattdessen behutsam nach ihrer kalten Hand. ,,Ich bin Seth."

Sie starrte mich an. ,,Aber warum haben Engel Nasenringe?"

Ich rückte das Piercing zurecht und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. ,,Das ist aktuell der letzte Schrei im Himmel. Hat jeder."

Sie runzelte die Stirn und sah mir in die Augen. ,,Woah, du siehst aus wie ein Engel, Seth. Warst du schon immer so blond und engelig?"

Narkose schien wirklich kein schlechter Stoff zu sein. Ich bemühte mich, meine Mundwinkel unter Kontrolle zu bekommen, aber sie zuckten noch immer verräterisch. ,,Stell dir vor", sagte ich und beugte mich ein Stück nach vorne, ,,Ich bin sogar schonmal wesentlich blonder gewesen als heute."

Sie blinzelte. ,,Oha."

Ich spürte, wie ihre eiskalte Hand in meiner etwas wärmer wurde. ,,Fuck, Lysanna, mach das nie wieder", murmelte ich und umfasste ihre Hand etwas fester.

Sie warf mir einen irritierten Blick zu. ,,Was denn? Dich mit einem Engel zu verwechseln? Das passiert dir doch bestimmt nicht zum ersten Mal."

So ging das Gespräch noch eine Weile weiter. Lysanna erzählte mir verrückte Sachen, beispielsweise, dass sie einen Plüschhasen namens Klopfer besaß, den sie bis heute als Glücksbringer verwendete. Oder dass ihre erste Freundin mindestens so blond gewesen war wie ich. Äußerst interessante Fakten. Zwischendurch nickte sie noch einmal ein, dann schien sie langsam von ihrem High herunterzukommen. ,,Wie lief der Angriff?", hakte sie schließlich nach.

Angespannt ließ ich meine Fingerknochen knacken. ,,Die Wachen haben sich irgendwann ergeben. Das Internat gehört uns." Ich lockerte meine Schultern. ,,Es gab viele Tote."

Sie sah mich an, als versuchte sie ihre Hirnzellen wieder an den richtigen Platz zu rücken. Ich starrte sie ebenfalls an. Sie lebte. Sie atmete.

,,Solltest du... nicht bei ihnen sein?"

Vielleicht sollte ich das. Aber mir war egal, was ich sollte. Es fühlte sich in diesem Moment richtig an, hier zu sein und die anderen würden das schon ohne mich hinbekommen. Ich schüttelte den Kopf. ,,Ray und Kain kümmern sich darum."

,,Götter, das kann ja was werden."

Sie hatte Recht, Kain und Ray mit Verantwortung alleine zu lassen, zählte nicht zu meinen besten Ideen, aber sie würden das schon hinkriegen. Die grobmotorische Arbeit war schließlich getan. Ich beugte mich über sie, um die Decke über ihr zurechtzuzupfen, als sie plötzlich blitzschnell den Arm hob, die Finger in meine Haare krallte und meinen Kopf mit wesentlich mehr Kraft, als sie besitzen sollte, nach unten riss.
,,Au!", brachte ich noch heraus, ehe mein Gesicht auf Lysannas landete und sie mich... küsste?
Bei den Göttern, war ich jetzt auch auf Narkose oder tat sie das wirklich? Eine kurze, sanfte Berührung, die das Blut trotz ihrer kalten Lippen kochend heiß durch meine Adern rauschen ließ. Mein Herz pochte, als Lysanna meinen Kopf freigab und mir ein kurzes Grinsen schenkte.  ,,Wollte ich die ganze Zeit schon mal ausprobieren."

Ich wollte mich gegen die Lehne des Stuhls fallen lassen, vergaß aber, dass der Stuhl überhaupt keine Lehne besaß und kippte fast nach hinten um. Ich fing mich gerade noch, während ich Lysanna lachen hörte. ,,Du weißt ja, wenn's blutet, kannst du dich hier flicken lassen."

,,Hilfreich", murmelte ich, während ich meine Gräten sortierte. Mein Puls arbeitete noch immer etwas übermotiviert, während ich sie kopfschüttelnd musterte. ,,Machst du das immer so brutal?", fragte ich.

Sie sah mich an, als müsste sie darüber ernsthaft nachdenken. Dann zuckte sie mit den Schultern. ,,Kommt drauf an, wer das Opfer ist."

Ich neigte den Kopf zur Seite. ,,Ich freue mich irgendwie auf den Moment, in dem du von deinem High runterkommst."

Lysannas Blick war etwas irre, als sie mich ansah. ,,Böööse." Dann zuckte sie erneut mit den Schultern. ,,Ich glaube nicht, dass ich das bereue, Hadessohn."

Das... das klang erstaunlich wach. Viel zu wach. Ich stand auf, blieb neben dem Bett stehen und blickte auf Lysanna herab. Für einen kurzen Moment sog ich das Bild in mich auf. Wie sie atmete, wie das Gerät neben ihr ihren Herzschlag aufzeichnete, den wachen Blick aus ihren klaren blauen Augen. Dann holte ich tief Luft. ,,Ich muss jetzt gehen und nach dem Rechten sehen. Wir holen dich sobald wie möglich." Ich nahm ihre Hand und drückte sie kurz, dann wandte ich mich ab und ging in Richtung Tür.

,,Hadessohn?"

Ich hielt inne. ,,Hm?"

,,Es ist krass, was wir erreicht haben. Das wird der Beginn eines neuen Zeitalters." Sie hob den Kopf und sah mich an. ,,Danke. Für alles."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt