Kapitel 2

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~Cleo

Irgendwie fand ich es seltsam, dass ich tatsächlich darauf eingewilligt hatte, freiwillig Zeit mit Seth zu verbringen. Aber in erster Linie hatte ich einfach mal wieder das Internat verlassen wollen und Seth war heute sozial genug gewesen, es mir zu ermöglichen. Alleine durfte ich das als Schülerin nämlich nicht. Eigentlich war das hier der reinste Knast, wenn ich so darüber nachdachte. Und ausgerechnet Seth meine einzige Möglichkeit in die Freiheit.

Es war wirklich praktisch, dass Seth immer und überall pure Macht ausstrahlte, denn die Wachen hielten uns nicht auf, obwohl vermutlich selbst der letzte Vollidiot darauf kommen könnte, dass wir mit Papagei und einer Tasche voll klirrender Bierflaschen eher kein Training planten. Seth war so oder so furchteinflößend mit seiner schwarz gekleideten Gestalt von über einem Meter neunzig, aber seit seiner... Verwandlung strahlte er wortwörtlich Macht aus. Wann immer er in der Nähe war, fuhr einem das Gefühl von Wärme und purer Energie über die Haut. Wenn man eine Weile bei ihm war, ließ es nach, aber im ersten Moment haute es einen beinahe um.
Dementsprechend konnte ich sehr gut verstehen, dass die Wachen ihm nur zunickten und zur Seite traten.

Seth hatte mich eine Weile schweigsam durch den Wald geführt, bis wir irgendwann an einer Lichtung, durch die ein kleiner Fluss hindurch floss, ankamen. Ich sah mich um. Leuchtend grünes Gras wuchs auf dem Boden, das Laub der Bäume war herbstlich-bunt verfärbt und das Wasser des Flusses rauschte kristallklar über moosbewachsene Steine. Schöner Ort. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Seth so ein Naturmensch war. Trotz der Jahreszeit war es heute angenehm warm und die Strahlen der Sonne tauchten die Landschaft in ein goldenes Licht. Es war echt schön, mal wieder etwas anderes als den Internatscampus zu sehen.
Ich drehte mich um und sah zu Seth, der gerade alle Hände voll damit zu tun hatte, Skotádi davon abzubringen, ihn mit seiner Kette zu erwürgen. Er gewann den Kampf und schob die Kette, dem Papagei ein hönisches Grinsen schenkend, unter sein Shirt. Es freute mich wirklich unglaublich für ihn, dass er Skotádi nun wieder hatte, allerdings fragte ich mich nach wie vor, wie zur Hölle das möglich sein konnte. Normalerweise erwachten Papageien nicht einfach von den Toten. Seth wandte den Blick von Skotádi ab und sah stattdessen zu mir.

,,Äh, danke, dass du den leider verhinderten Matt bei eurem monatlichen Best-Friends-Biertrinken durch mich ersetzt hast", sagte ich.

,,Gerne doch", erwiderte Seth,  ,,du warst die erst beste Alternative, die mir eingefallen ist." Die erst beste Alternative. Auch sonst fühlte ich mich sehr geliebt. Aber solange ich das Internat verlassen konnte, war es mir ziemlich egal, welche Priorität ich auf Seths Alternativliste belegte.
,,Danke Seth, ich fühle mich geehrt", erwiderte ich ironisch. ,,Welche wichtige Tätigkeit muss Matt denn ausführen, dass er dich versetzt?"

Seth stellte die Tasche auf dem Boden ab und ließ sich neben dieser ins Gras sinken. ,,Matt muss mit der Schulband proben, damit das Internat demnächst mit schlechter Musik beschallt werden kann."
Er schien in jedem Fall ein riesen Fan von Matts Musik zu sein. Ich setzte mich neben ihm auf den Boden und streckte die Beine aus. ,,Ihr habt eine Schulband?"

,,Ja, leider. Ohrenkrebs im Endstadium, wenn du mich fragst."

Für Seth war vermutlich alles Ohrenkrebs, was nicht Iron Maiden oder Metallica hieß. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah, wie Seth die Tasche öffnete, um zwei Bierflaschen herauszuzerren. Mein Blick blieb an dem neuen Tattoo auf seinem rechten Oberarm hängen. Die Narbe, die sich bis vor Kurzem noch über seine Haut erstreckt hatte, war einem schwarz-grauen, unglaublich realistisch aussehendem Löwenkopf gewichen. Daneben, untermalt von einer grauen Schattierung, befand sich ein Zitat, verfasst in geschwungen, schwarzen Buchstaben. Don't waste your time always searching for those wasted years. Iron Maiden, wenn ich mich nicht irrte. Besonders schön fand ich die intensiv grünen Augen des Löwen, der einzig farbige Teil des Tattoos. Sie verliehen dem Ganzen etwas Lebendiges.
Seth war ein lebendes Beispiel dafür, dass Tattoos nicht nur cool, sondern auch unglaublich faszinierend sein konnten. Ein bisschen zu faszinierend, denn ich wandte den Blick erst wieder ab, als mir jemand eine Bierflasche vor die Nase hielt.

,,Mein Tattoo fühlt sich sehr geschmeichelt, Hexe, aber wir müssen uns jetzt den wichtigen Dingen zuwenden." Er hatte Recht. Wir waren nicht zum Spaß hier. Grinsend nahm ich ihm die Bierflasche aus der Hand und öffnete sie. Seth schlug seine Flasche gegen meine und nickte mir zu. ,,Skål."
Wie enttäuschend, dass er keine Trinkhörner organisiert hatte. ,,Skål."

Eine Weile saßen wir schweigend da und tranken Bier, bis ich schließlich das Schweigen brach. ,,Konnte dir Lysanna eigentlich etwas über deine... Mutation sagen?"
Seths Gesichtsausdruck verfinsterte sich. ,,Nein. Nichts. Außer, dass dieser türkishaarige Freak mir vielleicht weiterhelfen könnte."
Der 'türkishaarige Freak' erinnerte mich leider schmerzhaft an den Tag, an dem Damian mich entführt hatte. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Meine Erinnerungen an diesen Vasanist -Ray- waren nicht unbedingt die Besten. Ich versuchte, die Gedanken in die dunkelste Ecke meines Hirns zu verbannen und trank einen Schluck Bier. ,,Vielleicht liegt die Antwort ja ganz nahe", erwiderte ich.
Seth drehte den Kopf in meine Richtung und zog eine Augenbraue hoch.
,,Vielleicht bist du ein Dämon. Oder ein Vampir. Oder ein... Elb", schlug ich vor. Anscheinend war das die falsche Antwort, denn Seth sah so aus, als wollte er mir seine Bierflasche über die Rübe ziehen. Verlegen streckte ich die Beine aus. ,,Kein Elb?"

,,Nein."

Schade. Dabei trafen die Kriterien recht gut auf ihn zu. Groß wie ein Baum, unsterblich, solange ihn niemand umbrachte, und nahezu überirdisch schön. Allerdings hatte er keine spitzen Ohren, wie ich mit einem Blick zur Seite feststellen musste. Dafür entdeckte ich eine kleine Narbe an seinem Ohrläppchen, die mir vorher noch nie aufgefallen war. Hatte Seth nicht mal erzählt, dass er früher auch so schicke Tunnel wie Leandros getragen hatte? Das war wohl ein Überrest davon.
Gerade, als ich den Blick wieder abwenden wollte, drehte sich Skotádi, die auf Seths anderer Schulter saß, in meine Richtung. Sie krallte sich in sein T-Shirt und versuchte in einer äußerst akrobatischen Vorstellung, auf dessen andere Schulter zu klettern. Als sie es schließlich geschafft hatte, lehnte sie sich zu mir und sah mich neugierig an.
,,Wie bist du eigentlich an sie gekommen?", fragte ich und nickte in Richtung des Vogels.
Seth hob einen dünnen Ast vom Boden auf und reichte ihn Skotádi, die daraufhin begeistert begann, ihn mit dem Schnabel in Sägespäne zu zerlegen. Scheinbar gleichgültig starrte er auf den Fluss, aber seine Muskeln spannten sich an.  ,,Hades war hier."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt