Kapitel 5.6

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~Cleo

Was Seth mir erzählt hatte, schwirrte mir den Rest des Tages im Kopf herum. Dass ich ihn nicht mit anderen Augen sah, wäre gelogen. Denn das tat ich. Zumindest gewissermaßen. Ich verstand nun, warum er niemanden an sich heranließ, warum er niemandem vertraute. Er hatte ganz einfach nie jemandem gehabt, dem er vertrauen konnte. Vermutlich wusste er nicht einmal, wie das funktionierte. Und dann war da Esme gewesen- möglicherweise einer der wenigen Menschen, die Seth näher an sich herangelassen hatte und er hatte sie verloren. Ich wusste, dass er kein Mitgefühl wollte, aber verdammt, am liebsten würde ich ihn aufsuchen und ein weiteres Mal knuddeln. Er konnte ein verdammter Vollpfosten sein, aber er verdiente das alles nicht.

Gegen Abend tauchte Dawson an meiner Zimmertür auf und überredete mich dazu, bei der Internatswache auszuhelfen. Chris, die während unserer Konversation neben mir stand, hätte Dawsons Angebot wohl mit Handkuss angenommen, aber so war ich nicht. Langsam wuchs ich in das Leben als Halbgöttin herein, allerdings bevorzugte ich nach wie vor einen freien Abend gegenüber dem Kämpfen. Eigentlich bevorzugte ich so ziemlich alles Andere.

Als ich am Abend schließlich über den Campus lief, wehte ein kalter Wind. Obwohl ich mir bereits sehr viel mehr Schichten angezogen hatte, als es die klassische Kampfuniform eigentlich erlaubte, erschauderte ich. Ich würde mich nie wieder von Dawson zum Kämpfen überreden lassen. Erwartungsgemäß war Seth nirgendwo zu sehen, alles andere hätte mich auch sehr gewundert.

,,Hi Strafarbeit." Plötzlich stand Dawson neben mir, nur die Götter wussten, wo der schon wieder hergekommen war. Wahrscheinlich hatte er im Gebüsch gelauert.

,,Hallo Hasi", erwiderte ich. Seth hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich Dawsons Spitznamen recycelte.

Daraufhin legte er die Stirn in Falten. ,,Ich finde es ja wirklich bezaubernd, dass euch allen so viel an mir liegt, aber ihr müsst mich echt nicht immer Hasi nennen."

Grinsend sah ich ihn an. ,,Es bereitet keine Umstände."

Dawson sah sich suchend um und blickte anschließend wieder zu mir. ,,Wo steckt eigentlich unser geliebtes Rauschgoldengelchen schon wieder?"

,,Nicht hier", antwortete ich schlicht. Angesichts der Tatsache, dass ich wusste, wie mies Seth sich gerade fühlte, stünden die Chancen gut, dass ich Dawson mit einem Ast aufspießen würde, wenn er nicht die Klappe hielt.
Aber natürlich tat er das nicht. So intelligent war er nicht. ,,Gestern seid ihr noch Hand in Hand in den Wald gelaufen und heute ist schon wieder alles vorbei?" Er seufzte. ,,Das macht er mit jeder. Komm bloß nicht auf die Idee, ihm dein Herz zu schenken." Dawson hatte Glück, dass hier im Augenblick kein geeigneter Ast herumlag, mit dem ich ihn aufspießen könnte.
,,Danke für deine wertvollen Ratschläge, ich war kurz davor, meine Liebesbriefe an ihn abzuschicken."
Er seufzte. ,,Was würdest du nur ohne mich tun?"

Vermutlich einen entspannten Abend in meinem Zimmer verbringen. Ich verdrehte die Augen. ,, Ein wunderbares, entspanntes Leben führen, denke ich."
Dawson schnaubte. ,,Du hast ja keine Ahnung."

Richtig, die hatte ich nicht. Wie hatte ich nur die anfänglichen siebzehn Jahre meines Lebens ohne seine bereichernde Existenz aushalten können?

Als wir vor dem Internat ankamen, war nicht viel los. Die Meisten unterhielten sich, einige saßen sogar auf dem Boden. Schien, als könnte man auch hier draußen einen entspannten Abend verbringen. Allerdings war es kalt. Dawson runzelte die Stirn. ,,Diese Produktivität ist der Wahnsinn. Ich hätte mein Handy mitnehmen und Clash of Clans weiterspielen sollen."

,,Ich hätte in meinem Zimmer bleiben sollen", brummte ich.

Dawson zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Während er sich abwandte und mit einer Wache unterhielt, ließ ich meinen Blick über die Leute gleiten. Ich war bereits dabei, den Blick wieder abzuwenden, als ich in einem Augenwinkel etwas Interessanteres sah. Ich drehte den Kopf und erblickte, mit dem Rücken an einem Baum sitzend, den Wikinger. Zuerst war ich mir aus der Entfernung nicht sicher, ob er es wirklich war, aber die Axt, die er in diesem Moment mit einem Stein schärfte, war mir noch wohlbekannt. Zumal hier niemand sonst mit einer Axt kämpfte. Bevor ich zwei Mal darüber nachdenken konnte, war ich bereits losgestapft und ließ Dawson einfach stehen. Ich war diesem Wikinger -Rune, wie er ja anscheinend hieß- noch ein 'Danke' schuldig. Schließlich hatte er mir vor ein paar Tagen das Leben gerettet und ich hatte nicht wirklich die Gelegenheit gehabt, ihm dafür zu danken. Als ich vor ihm zum Stehen kam, sah er nicht auf. ,,Tochter von Tyche", sagte er. Seine Stimme klang tief und rau, er sprach mit einem leichten Akzent, den ich nicht sofort zuordnen konnte. Aber wow, er sprach. Aus irgendeinem Grund war ich davon ausgegangen, dass er maximal seinen Namen sagen konnte. Er stand auf und überragte mich daraufhin um mindestens zwei Köpfe. Aus seinen bernsteinfarbenen Augen sah er mich durchdringend an. Heute war sein dunkles Haar zu einem französischen Zopf geflochten und trotz der Tatsache, dass es an den Seiten abrasiert war, war dieser so dick wie mein Handgelenk. An der Kette an seinem Hals hing ein Thorhammer und ebendieses Symbol befand sich auch auf einigen der Metallperlen, die an dünnen Zöpfen sein Haar zierten. Dieser Hammer schien im Allgemeinen sein Lieblingssymbol zu sein.
Was auch immer ich ihm hatte sagen wollen, hatte ich vergessen. Seine Erscheinung raubte mir die Worte. Nicht einmal, weil er schön war- sondern ganz einfach, weil ich noch nie jemanden gesehen hatte, der auch nur ansatzweise so aussah. Ich zwang mich dazu, den Blick von ihm loszureißen und starrte stattdessen auf den Boden.
,,Ich... ich wollte mich bedanken", brachte ich endlich hervor.
,,Wofür?" Rune fuhr ein weiteres Mal mit dem Stein über die Klinge der Axt.
,,Du hast mich gerettet, vor ein paar Tagen, als mich dieser eine Vasanist angegriffen hat. Also... Danke", murmelte ich. Ich hob den Kopf und starrte ihm wieder ins Gesicht. Schwarze Runen zogen unter seinem Auge eine senkrechte Linie über seinen Wangenknochen. Ebensolche Runen bedeckten auch die Haut an seinen nackten Armen. Mir wurde schon kalt, wenn ich ihn nur ansah. Sein Vorname konnte allerdings nicht passender sein- und er klang zugegebenermaßen ziemlich cool.

,,Du solltest mir nicht danken." Der Stein glitt erneut über die Schneide der Axt. ,,Ich hatte in diesem Moment nichts Wichtigeres zu erledigen."

Hatte er mir gerade gesagt, dass er mir geholfen hatte, weil er nichts besseres zu tun hatte? Das... das schmerzte irgendwie.  ,,Äh... Gut zu wissen", murmelte ich.

Der Wikinger erwiderte nichts und steckte den Stein in seine Tasche. Obwohl er weder sympathisch, noch gesprächig zu sein schien, wollte ich mich nicht einfach vom Acker machen. Dafür war ich viel zu neugierig. ,,Du bist nicht hier, weil du uns beim Kampf gegen die Rebellion helfen willst, oder?", fragte ich.

,,Nein. Der Auftrag der Götter ist ein Anderer."

,,Seth", sagte ich.

Rune sagte nichts, was Antwort genug war. Die Götter sahen eine Gefahr in Seth und Rune sollte ihn im Auge behalten. Das stimmte mit dem überein, was Estelle über ihn gesagt hatte. Der Wikinger stieß sich von dem Baum ab, nickte mir zu und lief davon. Er lief einfach davon. Wow. Das war irgendwie echt unhöflich.
Stirnrunzelnd sah ich ihm hinterher. Irgendwie war er eine merkwürdige Persönlichkeit. Er redete und verhielt sich wie jemand, der selten mit Leuten interagierte. Wenn er den Göttern allerdings wirklich als 'Werkzeug' diente, wie Estelle gesagt hatte, blieb er vermutlich auch nie lange an einem Ort. Möglicherweise wusste er wirklich nicht, wie man Konversation betrieb. Oder er war eben doch einfach nur unhöflich.
Ich drehte mich um und ging zu Dawson zurück, der irgendwann anscheinend mein Verschwinden bemerkt hatte. ,,Wo bist du gewesen?", fragte er misstrauisch, als ich ihm auf die Schulter tippte.

,,Hab mit jemandem geredet", erwiderte ich nur. ,,Hier läuft heute nicht viel, oder?"

Er schüttelte den Kopf. ,,Nein, heute ist es ziemlich ruhig. Ich schlage vor, dass wir uns heute frei nehmen."

Ich grinste. ,,Das sind wohl die schönsten Worte, die jemals deinen Mund verlassen haben."

Dawsons Mundwinkel hoben sich ebenfalls. ,,Ich bin mir sicher, dass meine Worte im Allgemeinen stets wunderbar und bereichernd sind."

Ich seufzte. ,,Da jegliche Art der Diskussion meinen Aufenthalt hier verlängern würde und mir schon diverse Finger abfrieren, lasse ich das mal so stehen."

Dawsons Grinsen wurde breiter. ,,Gute Nacht, Strafarbeit."

,,Gute Nacht, Hasi."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt