Kapitel 6

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~Cleo

Als ich am nächsten Tag nach dem Unterricht zu Seths und meinem Stammtrainingsraum ging, erwartete ich nicht, dass Seth kommen würde. Vermutlich brauchte er Zeit, wollte alleine sein. Einen Versuch war es dennoch wert. Ich stieß die Tür auf und betrat den Raum. Allerdings war ich darin nicht alleine.
Ein baumlanger, schwarzgekleideter Gott stand mit dem Rücken zu mir und war dabei, einen Dummy zu verprügeln. Würde er sich von mir fernhalten wollen, hätte er diesen Raum nicht gewählt, da war ich mir sicher. Ebenso war ich mir sicher, dass er meine Anwesenheit längst bemerkt hatte.
Seth brachte einen letzten Tritt an, dann drehte er sich um und sah mich an.

,,Hi", sagte ich verlegen.

,,Hi."

Er wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und ließ anschließend seine Fingerknochen knacken. Ich merkte ihm an, dass er sich ebenfalls unwohl fühlte.
Schweigend sahen wir uns an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war Seth, der das Schweigen schließlich brach. ,,Warst du gestern Abend draußen?", erkundigte er sich.

,,Ja, aber nicht lange. Gestern war nicht viel los", antwortete ich dankbar für das Gesprächsthema. Seth neigte den Kopf und ließ einen Wirbel einrasten. ,,Hasi war bei dir?"

Dawsons Spitzname brachte mich zum Grinsen. ,,Ja, und er hat dich schmerzlich vermisst."

Erstaunlicherweise hatte er sich ja tatsächlich nach Seth erkundigt, ich war immer noch fest davon überzeugt, dass die beiden eines Tages wunderbare Freunde werden würden. Seth griff nach seiner Wasserflasche, trank einen Schluck und stellte sie anschließend zur Seite. ,,Selbstverständlich. Hast du diesen Rune eigentlich nochmal gesehen?"

Damit erinnerte er mich schmerzlich daran, wie Rune mich gestern Abend einfach hatte stehen lassen, als wäre ich ein schimmliges Pausenbrot. ,,Ja, gestern Abend. Habe sogar mit ihm geredet. Er ist super unhöflich und nicht sehr gesprächig, aber er hat bestätigt, dass er wegen dir hier ist. "

,,Der Arme."

Auf Seth aufzupassen war allerdings wirklich ein mieser Job. Dawson musste ihn irgendwann aufgegeben haben und ob Rune mehr Erfolg haben würde, würde sich zeigen. Allerdings schien er sich nicht auffällig oft in dessen Nähe aufzuhalten. Vermutlich war er eher für die krasseren Fälle hier.

,,Ach, ich glaube, ihr würdet euch super verstehen. Er redet nicht, ist unhöflich und er hört bestimmt auch diese eine Wikingerband, von der du immer T-Shirts trägst." Ich runzelte die Stirn. ,,Von der du immer T-Shirts getragen hast", verbesserte ich mich dann. Sein Kleiderschrank schien schon seit Tagen nur noch aus langweiligen grauen und schwarzen T-Shirts zu bestehen. Immerhin war noch keine Farbe dabei gewesen, sonst hätte ich ernsthaft begonnen, mir Sorgen um ihn zu machen.

Er hob die Hände und ließ ein weiteres Mal seine Fingerknochen knacken. ,,Schön, dass mein göttergesandter Babysitter wenigstens einen guten Musikgeschmack hat."

Während er sprach, fiel mir sein leichter Akzent auf. Ich bemerkte ihn nur selten und er war oft nur ganz leicht, aber er rollte das 'r'. Mittlerweile wusste ich wohl auch, woher das kam. ,,Du hast erzählt, dass du in Russland und in der Ukraine gewohnt hast", sagte ich. ,,Kommt daher dein Akzent?"

Seine Muskeln spannten sich an und er wandte den Blick ab.  Ich sah, wie seine Hände sich öffneten und wieder zusammenkrampften, dann räusperte er sich. ,,Ja", antwortete er. ,,Bin ich irgendwie nie wieder so richtig losgeworden." 

Ich runzelte die Stirn. ,,Hätte gar nicht gedacht, dass man sich das so schnell so sehr angewöhnt."

Seth griff nach Matts Freundschaftskette und wickelte sie sich um den Finger.  ,,Russland ist eine Nummer für sich", erwiderte er. ,,Kam mir nicht sonderlich gastfreundlich vor. Und auch ansonsten nicht sonderlich freundlich. Wenn man sich da nicht wenigstens ein bisschen anpasst, macht es die Dinge unnötig schwer."
Was er sagte, erweckte meine Neugier. Ich war nie großartig in der Welt herumgekommen. Ich hatte es auch nie gebraucht. Alles, was ich gewollt hatte, waren das Reiten und mein Pferd gewesen. Interessieren taten mich andere Kulturen allerdings sehr wohl. ,,Wie ist es dort so gewesen?", fragte ich vorsichtig, in der Hoffnung, dass es ihm nicht zu weit ging.

,,Als würde man in die Vergangenheit ziehen", erfolgte die Antwort ohne zu zögern. ,,Stereotypen sind dort an der Tagesordnung. Männer beschaffen das Geld, Frauen haben sich um die Kinder zu kümmern. Mädchen werden dort an der kurzen Leine gehalten, und mit Hobbys überhäuft, egal ob sie das gut finden oder nicht. Bei Jungs ist es ähnlich, aber weniger extrem. Es gibt eine verdammte Liste, auf der hunderte Berufe stehen, die Frauen nicht ausführen dürfen, weil es ihrer 'Reproduktionsfähigkeit' schadet. Es gibt Schulen, auf denen Frauen lernen sollen, wie sie Männer am besten um den Finger wickeln können. Der Mann ist das Oberhaupt der Familie und häusliche Gewalt ist eine Ordnungswidrigkeit, keine Straftat."

Ungläubig riss ich die Augen auf. ,,Oha."

,,Der Liebhaber meiner Mutter ist mir gegenüber nie handgreiflich gewesen - zu seinem Glück. Dafür hat er versucht, sich in mein Leben einzumischen und mich mit strenger russischer Erziehung zu bewerfen. Hat super funktioniert." Seine Stimme triefte vor Ironie und ich musste unwillkürlich grinsen. Dass strenge Erziehung bei einem rebellischen, pubertären Seth nicht allzu gut funktioniert hatte, konnte ich mir vorstellen.

,,Ganz sicher", murmelte ich. Seth... nun, ich würde seinen Gesichtsausdruck nicht als Grinsen bezeichnen, aber er guckte eindeutig weniger ernst. ,,Du könntest ruhig etwas überzeugter klingen."

Ich grinste. ,,Irgendwie hätte ich gar nicht gedacht, dass du so ein... Feminist bist."

Er zuckte mit den Schultern.  ,,Menschen sind Menschen und Leute aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität oder was auch immer anders oder schlechter zu behandeln ist abstoßend." Er fuhr mit den Fingern über das Tattoo an seinem Handgelenk. ,,Ich beurteile Menschen danach, ob sie ein Arschloch oder kein Arschloch sind, nicht danach wie sie aussehen, oder wen sie lieben."

Diese Aussage ließ ihn auf meiner persönlichen Beliebtheitsskala ein ganzes Stück nach oben wandern. Denn ich sah es ganz genauso. Menschen waren erst einmal alle gleich- ob man ihre Art mochte oder nicht, konnte man entscheiden, wenn man sie kennengelernt hatte.

,,Das sind die weisesten Worte, die jemals deinen Mund verlassen haben", murmelte ich.

Er neigte den Kopf zur Seite und sah mich an. ,,Ich glaube, ich möchte wirklich nicht wissen, was du eigentlich von mir denkst."

Das wollte er vermutlich tatsächlich nicht. Ich hielt ihn für einen arroganten Vollidioten und wenn ich ehrlich war, hatte ich ihm bis eben noch ein leicht sexistisches Verhalten zugetraut. Zumindest wenn ich überlegte, wie er sich früher durch die Betten gewälzt hatte. Aus irgendeinem Grund war ich ihm schon lange nicht mehr auf den Gängen des Mädchenwohnheims begegnet und ich wusste nicht, ob er dafür nur  keine Zeit mehr hatte, oder ob der Grund ein Anderer war.
Seth war ein arroganter Vollidiot, aber ich mochte ihn. Das wurde mir in diesem Moment das erste Mal wirklich bewusst. Er war mir wichtig. Etwas, das ich mir vor ein paar Monaten niemals hätte vorstellen können.

,,Nein, das willst du nicht wissen", antwortete ich. ,,Aber ich mag dich. Irgendwie."

Daraufhin lächelte Seth. Es war ein echtes Lächeln, das seiner Schönheit etwas von ihrer üblichen Kälte nahm.  ,,Ich hasse dich auch ein bisschen weniger, als den Rest der Weltbevölkerung, Hexe."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt