Kapitel 5.1

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~Cleo

Dawson, Chris und ich waren im Unterricht ziemlich tot gewesen. Seth und Matt hatten uns im Beer Pong gestern so abgezogen, dass mir der Schädel brummte und so wie die Anderen aussahen, ging es ihnen nicht besser.
Seth hingegen schien keine Kopfschmerzen zu haben. Leider. Somit hatte er auch nichts besseres zu tun, als mich am Nachmittag zum Training zu zitieren. Ich hätte ihm keinen verdammten Selbstbräuner schenken sollen. Er hatte mir versprochen, dass er sich rächen würde und ich zweifelte nicht daran, dass er plante, dies umzusetzen.

Als ich die Tür zum Trainingsraum öffnete, befand sich Seth bereits darin und war dabei, einen Dummy zu verprügeln. Er trug ein graues T-Shirt, was seltsam an ihm aussah. Mir war schon vor einigen Tagen aufgefallen, dass sich seine Erscheinung irgendwie geändert hatte. Er sah weniger aus wie der Metalhead-Halbgott, als den ich ihn kennengelernt hatte, dafür erwachsener, normaler. Vermutlich wollte er nicht noch unnötig Aufsehen erregen. Als ich mich räusperte, drehte er sich um und strich sich mit der Hand über die Stirn. ,,Du bist zu spät", sagte er.

,,Ich wünsche dir auch einen guten Tag", erwiderte ich freundlich.

,,Im Gegensatz zu dir habe ich einen wunderschönen Tag", kam es zurück. Ich war mir nicht sicher, ob diese Aussage auf das Training oder die Kopfschmerzen abzielte, aber so oder so entfachte es in mir die Lust, mich mit Seth zu prügeln.
Allerdings schien prügeln nicht auf Seths heutiger To-do-Liste zu stehen. Er ging an mir vorbei, tippte einen Code in den Safe an der Wand und nahm einen Dolch heraus, den er mir anschließend in die Hand drückte. Ich blickte auf den Dolch und anschließend zu Seth. ,,Und jetzt soll ich dir das Herz herausschneiden?"

Er zog die Augenbrauen hoch. ,,Nein. Das könntest du gar nicht."

,,Weil du kein Herz besitzt?"

,,Das ist ein Problem. Um das andere kümmern wir uns heute", erwiderte er und schob mich zu der Dummy-Figur, die er zuvor verprügelt hatte. Sie wies eine menschliche Statur auf und war übersäht mit Schnitten, Kratzern und tiefen Dellen. Seth streckte den Arm aus und deutete auf eine Stelle links oben auf dem Oberkörper der Figur. ,,Dort sitzt das Herz", sagte er. ,,Danach solltest du zielen. Geht am schnellsten. Lässt das Opfer am wenigsten leiden."
Ich fragte mich, warum er mir das erzählte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich einen Dolch in der Hand hielt.

,,Wir haben bisher noch nie wirklich mit Dolchen trainiert. Du weißt, wo das Herz sitzt. Also stech zu."
Irgendwie klang er heute so seltsam monoton. Wie ein Roboter, der das alles herunter betete. Er benahm sich ganz anders als gestern Abend noch. Anscheinend konnte er zwischen Beruflichem und Privatem gut trennen.

,,Äh, okay", antwortete ich stirnrunzelnd. Ich umklammerte den Dolch mit einer Hand und visierte das imaginäre Herz der Figur an. Dann holte ich aus und- stoppte aus irgendeinem Grund davor. Vielleicht, weil dieser Dummy recht menschlich aussah. Oder weil ich allgemein ein Problem hatte, bei so etwas durchzuziehen. Aber ich bekam es nicht hin. Irgendetwas schien mich zu stoppen.

,,Das ist 'ne Plastikfigur, Cleo." Seth klang etwas genervt. ,,Die hat keine Gefühle und die hat auch kein Herz."

Ich verkniff mir einen weiteren Witz zu Seth und seinem nicht vorhandenen Herz und versuchte stattdessen wütend auf ihn zu sein. Wut half beim Kämpfen, die Erfahrung hatte ich schon des Öfteren gemacht. Ich holte erneut aus, wurde vor dem Dummy etwas langsamer, versenkte aber schließlich eher halbherzig den Dolch an der Stelle, an der das Herz sitzen sollte. Seth sah noch immer nicht zufrieden aus. ,,Nochmal."

Er ließ mich den Spaß noch einige Male wiederholen, dann wechselte er die Herangehensweise. Wir kämpften miteinander und wenn Seth es mir sagte, sollte ich auf den Dummy zu rennen und ihn abstechen. Töten lernen. Sollte unbedingt Teil des allgemeinen Unterrichts werden.

Ich wich Seths heranschnellender Faust aus und setzte zu einem Angriff an, den er abblockte. Unter meinem nächsten Angriff duckte er sich elegant hinweg. ,,Jetzt", sagte er und war dabei nicht mal ein klein wenig außer Atem. Ich sprang von der Matte, nahm im Rennen den Dolch in die Hand und stach damit in den Dummy.

,,Gut", sagte er. ,,Nochmal."

Das ganze Spiel durfte ich dann noch einige Male wiederholen, bis Seth schließlich eine Trinkpause anordnete. Als ich meine Flasche absetzte und zu ihm sah, hatte er den Kopf gesenkt und betrachtete gedankenverloren das Tattoo auf seinem linken Arm. Seine Finger strichen die schwarzen Linien nach. Ein Gott, der den Arm ausstreckte, dahinter eine Spur von Bildern und Symbolen, die Leiden und Schmerz darstellten. Gräber, ein Frauengesicht voll Tränen, Totenschädel, Feuer und Zerstörung. Die schwarz-graue Farbwahl ließ das Bild nicht weniger lebendig wirken, sondern brachte die düstere Atmosphäre gut zum Ausdruck. Das war nicht nur ein beeindruckendes Tattoo, das war ein Statement.
,,Ist das Hades?", fragte ich und deutete auf den Gott auf seinem Oberarm.

Seth hob den Kopf und sah in meine Richtung. ,,Ja."

,,Hast du das selbst gezeichnet?" Ich wusste, dass er den Löwenkopf auf seinem anderen Arm selbst gezeichnet hatte, wundern würde es mich also nicht. Neben Gitarre spielen, singen, kämpfen und trölfhundert anderen Dingen war er nämlich auch äußerst gut im zeichnen.

,,Teilweise. Hab mit dem Kumpel, der mir das auch tätowiert hat dran gearbeitet. War ein riesen Projekt."

,,Ihr habt gute Arbeit geleistet", erwiderte ich bewundernd.

Er hob einen Mundwinkel. ,,Danke."

Danke. Ein Wort, das man nur selten ohne Ironie aus Seths Mund hörte. Ich lächelte. ,,Gerne. Ich vermisse übrigens die Bandshirts an dir. Ohne die siehst du irgendwie nur halb vollständig aus." Ich musste ehrlich zugeben, dass mir Seths alternative Version irgendwie fehlte. Jemand wie er in einer so hohen Position hätte etwas frischen Wind das Meer der immergleichen wichtigen Leute gebracht, aber ich verstand, dass er nicht unnötig auffallen wollte. Jedenfalls ging ich davon aus, dass das sein Plan war.

,,Ich bin Gott", erwiderte Seth. ,,Reicht das nicht?"

Ich zuckte mit den Schultern. ,,Das musst du selbst für dich entscheiden", sagte ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Seth blinzelte, als überraschte ihn diese Antwort. Eigentlich erwartete ich schon, dass er das Thema wechselte und dicht machte, aber das tat er nicht. Er legte eine Hand in den Nacken und seufzte. ,,Die Leute starren mich an, als würden sie erwarten, dass mir im nächsten Moment ein Paar Flügel aus dem Rücken wachsen. Ich hab irgendwie das Gefühl, dass man von mir erwartet, dass ich jemand anderes bin. Und ich fange an, selbst so zu denken." Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Das war mehr Antwort, als ich jemals von ihm erwartet hätte. Seth gab mir allerdings keine Gelegenheit, noch etwas darauf zu erwidern und setzte das Training fort, ohne noch etwas dazu zu sagen. Alles andere hätte mich auch zugegebenerweise ziemlich gewundert.

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt