Kapitel 7.6

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~Cleo

Den restlichen Tag wusste ich nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich tigerte unruhig über das Gelände des Internats, von den Trainingsräumen über den Campus, zu Seths Zimmer und wieder zurück. Irgendwann beschloss ich, früh schlafen zu gehen, doch ich bekam kein Auge zu. Die ganze Zeit schon spürte ich ein beklemmendes Gefühl in der Brust und ich hatte einen Kloß im Hals. Ich fühlte mich, als müsste ich weinen, doch ich... ich konnte es nicht. Irgendwann, als Chris bereits lange schlief, hielt ich es nicht mehr drinnen aus, schnappte mir meine Jacke und ging hinaus auf den Campus. Im schwachen Licht der Laternen, die am Wegrand standen, tanzten Schneeflocken. Der erste Schnee des Jahres. Es waren nicht viele und sie schmolzen sofort wieder, aber sie hüllten die Nacht dennoch in eine hübsche Atmosphäre. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und ging weiter, ohne zu wissen, wohin ich wollte. Meine Beine trugen mich auf den Übungsplatz, auf dem ich immer mit Matt trainiert hatte. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken. Hier hatte er mir beigebracht, wie ich Dummys mit Stöcken attackierte. Er hatte mit mir über meine traurigen Versuche, die Figur zu treffen gelacht, er war immer geduldig gewesen und... - ich ließ mich auf den Boden sinken und kauerte mich zusammen. Würde dieser Schmerz jemals aufhören? Tränen liefen über meine Wangen, jene Tränen, die ich die ganze Zeit unterdrückt hatte. Jetzt aber wurden sie von nichts mehr zurückgehalten. Und es fühlte sich gut an, endlich nicht mehr stark sein zu müssen. Ich hatte noch nie einen Menschen verloren, der mir nahe gestanden hatte. Vielleicht war ich deshalb so überfordert.

,,Cleo?"

Ruckartig hob ich den Kopf. War das...- Ja, das war Dawson. Sein Gesicht lag im Schatten, aber ich erkannte die silberschwarzen Haare, die es umgaben. Musste ausgerechnet er mich hier aufgabeln, während ich im Selbstmitleid zerfloss? Dann aber sah ich genauer hin. Er hielt eine glühende Zigarette in der Hand und die Luft roch nach Rauch. Ich hatte ihn noch nie rauchen gesehen, es schien, als wäre ich hier nicht die einzige, die mit ihrem Leben klar kommen musste. ,,Hasi", murmelte ich kraftlos. Er setzte sich neben mich und zog an der Zigarette. Ich drehte den Kopf in seine Richtung. ,,Du rauchst?"

Er blies den Rauch in die Luft. ,,Du sitzt nachts auf Trainingsplätzen und weinst?"

,,I-ich w-weine überhaupt... nicht", schniefte ich und wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht. Dawsons Lachen klang bitter. ,,Und ich rauche nicht."

Das Signal, nicht mehr heulen zu wollen, schien nicht bei meinen Augen anzukommen. Sie produzierten weitere Tränen, die mir über die Wangen liefen und auf meine Hände tropften. Verdammt. Ich wollte nicht heulen. Nicht vor Dawson. Aber ich... ich konnte einfach nicht anders. Ich hatte keine Kraft mehr, sie zurückzuhalten.

,,Ach Strafarbeit..." Dawson legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich näher an sich. Was zur Hölle? Instinktiv wollte ich ihn zunächst von mir wegstoßen, dann aber schien sich mein gesunder Menschenverstand vollkommen abzuschalten und ich klammerte mich an ihn wie ein kuschelbedürftiges Katzenbaby. Verdammt, was tat ich hier? Und was tat Dawson?
Dawson musste irgendwann die Zigarette fallen gelassen haben, denn er hatte einen Arm um mich gelegt und strich mir mit der anderen Hand beruhigend über das Haar. Und ich weinte. So viel, dass meine Tränen sein T-Shirt durchnässten, aber er beschwerte sich nicht. Er hielt mich einfach nur schweigend im Arm und war für mich da.

,,Morgen hasse ich dich aber wieder", murmelte ich verlegen in seine Schulter. Dawson lachte leise und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. ,,Tu was auch immer du nicht lassen kannst, Strafarbeit." Eine Weile hörte ich nur seine gleichmäßigen, tiefen Atemzüge. Vom Himmel fielen noch immer Schneeflocken und es war kalt, aber Dawson strahlte eine angenehme Wärme aus. Nachdem wir einige Minuten geschwiegen hatten, räusperte er sich. ,,Ich habe schon ewig nicht mehr geraucht", erzählte er mir. ,,Wir leben im Moment in keiner schönen Zeit."

Nein, das taten wir wirklich nicht. Unzählige Kämpfe und der Tod verfolgten uns seit Wochen und langsam fragte ich mich, ob all das irgendwann ein Ende nehmen würde. Was müssten wir dafür tun? Verhandlungen mit der Rebellion? Ich nahm meinen Kopf von seiner Schulter und wischte die Tränen fort. Ich wollte nicht mehr länger an Matt oder die Rebellion denken, deshalb wechselte ich das Thema. Wir waren ja gerade offen zueinander, richtig? ,,Was läuft da eigentlich bei Esme und dir?", fragte ich und sah zu ihm auf. Daraufhin senkte er den Kopf und wirkte beinahe verlegen. Er blickte zur Seite und zuckte mit den Schultern. ,,Gute Frage. Ich fürchte... etwas, das Blondchen nicht gefällt."

Damit bestätigte sich meine Vermutung. Esme und Dawson. Das war irgendwie echt schräg. Ich runzelte die Stirn. ,,Ich verstehe nicht, was Esme von dir will."

Dawson grinste. ,,Ich auch nicht." Er spielte gedankenverloren mit meinen Haaren. ,,Sie ist irgendwie ziemlich cool, weißt du?"

Bevor ich wusste, was ich da tat, hatte ich mich schon wieder an Dawson gekuschelt. Musste an der Kälte liegen, denn ich musste ihm zumindest zugestehen, dass er eine gute Heizung abgab. Und er war für mich da- das gab Pluspunkte. ,,Das ist sie. Und du bist es nicht."

Er seufzte. ,,Du wirkst Wunder für mein Selbstwertgefühl."

Ich gähnte ausgiebig. ,,Irgendjemand muss dich ja auf den Boden der Tatsachen zurückbringen." Vielleicht sollte ich etwas freundlicher zu ihm sein. Immerhin hatte ich bis vor ein paar Minuten noch sein T-Shirt vollgeheult und ich klammerte mich noch immer an ihn, als wäre er ein lebensgroßes Plüschtier. Ich war ehrlich froh, dass er da war.

,,Das tust du immer", brummte er. ,,Es scheint deine Lebensaufgabe zu sein, meine bereichernde Existenz nicht als solche zu schätzen."

Unwillkürlich musste ich grinsen, aber ich drückte mein Gesicht an seine Schulter und hoffte, dass er es nicht sah.

,,Dawson?"

,,Hm?"

Ich atmete tief durch. ,,Danke. Für alles."

Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich hätte schwören können, dass er lächelte.

,,Keine Ursache, Strafarbeit."

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt