Kapitel 11.5

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~Seth

Rays Worte gingen mir auch am Abend noch durch den Kopf. Er wollte, dass ich die Rebellion anführte. Er hatte gesehen, dass ich das tun würde. Die Leute, die ich bis vor kurzem noch abgeschlachtet hatte wie wilde Tiere, sollten mir folgen? Mir? Das war verkorkst. Alles. Und Ray war zwar ein Schwachkopf, aber die Tatsache, dass er mögliche Zukünfte sehen konnte, dass er sehen konnte, was ich möglicherweise eines Tages tun würde, jagte mir eine Heidenangst ein.
Aber zur Hölle, ich war keine Marionette mehr. Ich traf meine eigenen Entscheidungen.

Die eiskalte Nachtluft fuhr mir über die nackten Arme. Es war angenehm. Die Stille der Nacht, die Einsamkeit hier draußen. Seit ich bei der Rebellion war, war ich nur noch selten alleine. Das fehlte mir manchmal. In der Stille merkte ich, wie sich der Hunger wieder meldete. Leise im Hintergrund, aber er war da, das Verlangen nach einer Seele. Gestern hatte ich viel Energie benötigt und das Vasanistenvirus verlangte von mir, sie wieder aufzufüllen. Nun, für's erste musste dieser Apfel reichen. Kain hatte ihn mir vorhin mit dem Verweis auf gesunde Ernährung in die Hand gedrückt und da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, war das vermutlich nicht die schlechteste Idee gewesen. Gerade, als ich testen wollte, ob dieses vitaminreiche Lebensmittel wirklich so gut schmeckte, wie Kain predigte, wurde plötzlich die Luft um mich wärmer. Surrende Spannung fuhr mir über die Haut, erfüllte die Luft. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Mein Puls erhöhte sein Tempo, ich ballte die freie Hand zur Faust. Ich wirbelte herum, erblickte eine Gestalt hinter mir und dachte nicht zweimal über mein Handeln nach. Ich holte aus und schleuderte den teuren Bio-Apfel auf die Gestalt vor mir. Er traf auf keinen Widerstand, segelte ungehalten hindurch und traf mit einem dumpfen Geräusch Meter weiter hinten auf dem Waldboden auf. Ich riss den Kopf hoch und sah mein Gegenüber das erste Mal richtig an. Ein Mann, um die vierzig. Obwohl es stockdunkel war, waren seine Gesichtszüge gut zu erkennen, denn er leuchtete. Er leuchtete von innen heraus, als strahlte er die Macht aus, die er verkörperte. Rote Locken, ein ebenfalls roter Vollbart. Gesichtszüge wie aus Stein gemeißelt, volle Lippen. Er war riesig, mindestens dreißig Zentimeter größer als ich. Und bei den Göttern ... Die meisten würden nicht existieren ohne ihn. Vor mir stand Zeus. Zeus, der Gottesvater, Gott der Elektrizität, Oberhaupt der Olympier. Vater von Leandros. Dachte man sich die roten Augen und den Hipsterzopf dazu, wäre er ein exaktes, älteres Ebenbild seines Sohnes. Giftgrüne Iriden fokussierten mich.

,,Sohn von Hades."

Seine Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Es war, als würde ihr Klang sämtlichen Raum einnehmen und sich in meine Gehirnzellen brennen. Ich ballte die nun apfel-freie Hand ebenfalls zur Faust.

,,Sohn von Hades", wiederholte ich verächtlich, als ich meine Stimme wieder gefunden hatte. ,,Niedlich, wie ihr euch daran festkrallt. Als würde das jetzt noch irgendeine Rolle spielen."

Der Gottesvater senkte betont langsam den Kopf und sah zu mir herab. ,,Es spielt eine Rolle. Das ist, was du bist, Seth. Was du immer sein wirst."

Ich lockerte meine verkrampften Hände und starrte stur auf seine breiten Schultern. ,,Witzig, dass alle Leute immer der Meinung sind, mir erzählen zu können, wer ich bin oder was meine Bestimmung ist."

Dann drehte ich mich um und ging in schnellen Schritten wieder auf das Gebäude zu. Mir war vollkommen egal, wer er war. Mein Apfel war durch ihn hindurch geflogen, vermutlich war er eine halbmaterialisierte Erscheinung, wie Hades, als er mich das letzte Mal aufgesucht hatte. Weil sie Schiss hatten. Schiss vor mir. Schiss vor dem, was ich war. Wenn Zeus reden wollte, sollte er mir hinterher rennen. Wenn er sich diese Blöße nicht geben wollte, wäre ich ihn los.

Der Plan wäre genial gewesen, hätte ich nicht für einen Moment vergessen, dass Götter sich beamen konnten. Zeus' leuchtende Gestalt materialisierte sich, während ich die Tür zum Rebellengebäude öffnete. Am Rande bemerkte ich die verstörten Blicke der Wachen, aber ich hatte im Augenblick andere Probleme. ,,Seth." Er ließ sich nicht einen Hauch von Verärgerung anmerken. ,,Wir müssen reden."

Ich ging weiter. ,,Wir müssen überhaupt nichts."

Als ich in Kains Appartement ankam, materialisierte sich der Gottesvater erneut. Nun erkannte ich, wie sich seine Augen verengten. Er war angepisst. Mein Plan ging auf. ,,Dein mangelnder Respekt war schon immer eines der Hauptprobleme, Hadessohn."

Ich lachte aufgesetzt. ,,Respekt? Im Ernst? Du hast nicht die Eier, hier in Fleisch und Blut zu erscheinen und erzählst mir etwas von Respekt? Der Special Effekt mit dem Glühwurm-Leuchten ist ja ganz nett, aber du bist trotzdem nur ein Geist. Luft." Ich nahm eines von Kains dutzenden Haargummis von der Kommode, zog an einem Ende und ließ es auf den Gott schnalzen. Es sauste durch ihn hindurch und traf gegen die Wand. Der Gott ließ sich nichts anmerken. ,,Wem möchtest du etwas vormachen, Seth?" Er trat um mich herum, starrte mich aus seinen giftgrünen Augen an. ,,Du schwankst zwischen den Seiten. Du gibst den Göttern die Schuld an etwas, woran sie keine Schuld tragen. Komm zur Vernunft. Noch ist es nicht zu spät." Seine nächsten Worte spürte ich in jeder Zelle, als sprach er direkt in meinen Gedanken. ,,Was möchtest du mit alledem erreichen?"

Ich ballte die Hand zur Faust. Nicht zuletzt weil... weil er Recht hatte. Ein bisschen. Die Götter waren nicht Schuld daran, dass Matt gestorben war, nicht direkt. Aber sie waren auch nicht unschuldig. ,,Ich möchte euch fallen sehen", stieß ich hervor. ,,Das Zeitalter dieser Götter soll ein Ende haben."

Zeus legte die Stirn in Falten. ,,Du bist der dreizehnte olympische Gott. Du könntest einen Platz an diesem Ort haben. Stattdessen willst du Krieg. Krieg gegen zwölf ausgewachsene Götter. Denkst du, du hättest den Hauch einer Chance?"

,,Krieg gegen Götter, die sich nicht trauen, in Person hier zu erscheinen." Kains Bürste musste als nächstes dran glauben. Sie flog durch den Gott hindurch und knallte gegen die Wand. Hoffentlich war sie nicht kaputt, Kain würde mich umbringen.

Ein Muskel zuckte an Zeus' Kiefer. Er ließ sich nicht viel anmerken, aber ich wusste, dass er allmählich wütend wurde. Ich spürte seinen Zorn, der die Spannung in diesem Raum erhöhte. ,,Dieses Gespräch hätte unter anderen Umständen kaum stattgefunden."

Er hatte Recht. Wenn er vollständig hier erschienen wäre, hätte ich versucht, ihn zu göttlichem Hackfleisch zu verarbeiten. ,,Schon möglich." Ich neigte den Kopf zur Seite. ,,Du verschwendest deine Zeit. Pass auf, dass du nicht zu spät zum nächsten Golfmatch auf dem Olymp kommst."

Donner grollte. Blitze zuckten durch die Luft und tauchten das Appartement in ein gespenstisches Licht. Wüsste ich nicht, dass diese Blitze nicht mehr als epische Zimmerbeleuchtung waren, hätte ich jetzt möglicherweise Respekt vor ihnen gehabt. Sie erinnerten mich an etwas. Der Tag, an dem ich gegen Leandros gekämpft hatte. Als ich beinahe gestorben wäre. Als ich noch schwach gewesen war. Aber ich war nicht mehr schwach. Zeus konnte mir nichts.

,,Was ist mit dem Mädchen, das du liebst? Möchtest du wirklich, dass sie sich gegen dich stellen muss? Willst du dich gegen sie stellen?" Zeus Stimme klang wie ein Donnergrollen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf und ich ballte die Hände zu Fäusten. Feuer fegte durch mich hindurch, ich krampfte die Hände zusammen und versuchte, es unter Kontrolle zu halten. Zur Hölle, ihn ging das nichts an. Cat ins Spiel zu bringen war der mieseste Schachzug, den er hätte bringen können.

,,Rede nicht, als würdest du irgendetwas davon verstehen", fauchte ich. ,,Ich will deinen Tod. Ich will Hades' Tod. Ich werde mich nicht auf den Olymp setzen und der Welt den Rücken zukehren. Ich bin keiner von euch."

Zeus schüttelte den Kopf. Ich meinte, eine Art Bedauern in seinem Blick zu erkennen, als wäre er ein enttäuschter Vater. Die Spannung im Raum nahm ab, seine grünen Augen suchten meinen Blick. ,,Du hättest die Welt veränderen können, Seth. Aber der Weg, den du gewählt hast, wird dich auf eine kurze Straße führen."

Die Blitze zuckten um ihn herum, nahmen immer mehr Raum ein. Einen Moment war es so gleißend hell, dass ich nichts mehr sah, dann wurde es schlagartig dunkel und Zeus war verschwunden.

Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt