Nummer 13 - Todessohn II

Kapitel 12.4

~Seth

Es dauerte zwei Tage, bis ich wieder dazu in der Lage war, mehr als zwei Schritte zu gehen, ohne dabei jeden einzelnen Knochen im Körper zu spüren. Ungefähr vier, bis mein Gesicht nicht mehr wie ein Totalschaden aussah. Nach einer Woche hatte ich mir hinter Lysannas Rücken die Fäden gezogen- während Kain mir den Spiegel gehalten hatte. Das mochte ich so an ihm- er hatte mich nicht dazu überredet, ihn helfen zu lassen oder zu Lysanna zu gehen. Stattdessen hatte er mir schweigend den Spiegel gehalten, während ich mir fluchend Fäden aus der Kopfhaut gezupft hatte.
Mittlerweile erinnerte nur noch die blasse Narbe über der Augenbraue an den Kampf gegen Hephaistos. Es schien, als wäre die Erde mit mir geheilt; tagelang hatten die Vulkane verrückt gespielt, doch ganz plötzlich hatte sich alles wieder beruhigt. Ich wusste nicht, ob mich die Erde als Ersatz für den Feuergott ansah, oder ob Gaia seinen Part übernahm- die Welt hatte sich beruhigt. Es war kein Gott aufgetaucht, ich lebte und ich atmete. Und das alles machte mich nervös. Es war still. Zu still.
Irgendwann in den vergangenen zwei Wochen war eingetreten, was Ray mir prophezeit hatte. Die Leute hier sahen zu mir auf. Sie fragten mich nach dem nächsten Schachzug. Ich wusste nicht, ob ich bereits an der Stelle stand, an der Leandros für sie gestanden hatte. Aber es schien, als wäre ich nah dran. In erster Linie brachte ich ihnen wohl Hoffnung. Hoffnung, dass wir am Ende tatsächlich etwas bewirken konnten.

,,Die Nase sitzt noch etwas schief." Ich zuckte zusammen als ich Lysannas Stimme hörte und wandte ruckartig den Blick vom Spiegel ab. Ich befand mich in jenem Trainingsraum, in dem die Rüstungen aufbewahrt wurden. Und eventuell hatte ich mein Spiegelbild etwas zu fasziniert angestarrt. Manchmal freute man sich auch über die kleinen Dinge- beispielsweise, wenn das Gesicht nicht mehr wie ein Unfall aussah. 

,,Tut sie nicht." Ich drehte mich um und musterte sie. Mir fiel auf, dass sie heute ein weißes T-Shirt trug, was äußerst selten vorkam. Was die Farbe unserer Kleidung betraf, hatten wir einen ähnlichen Geschmack. Sie grinste und schüttelte den Kopf. ,,Doch, ganz eindeutig. Und dir fehlen da noch ein paar Haare."

,,Hab trotzdem noch dreimal so viel wie du."

,,Haarverlust in dem Alter ist bedenklich, Seth. Der Verfall scheint früh zu beginnen."

Unwillkürlich musste ich grinsen. ,,Immerhin werden sie noch nicht lila." Ich schüttelte die Schultern aus. ,,Was gibt's?"

,,Davon abgesehen, dass deine Nase schief ist?" Sie neigte den Kopf zur Seite. ,,Wir haben einen Spion enttarnt. Wir müssen entscheiden, was wir jetzt mit ihm machen."

Ich nickte nur und setzte mich ebenso wie sie in Bewegung.  Auf der einen Seite war es noch neu, dass sie mich bei solchen Dingen hinzuzogen, gleichzeitig fühlte es sich mittlerweile erstaunlich normal an. Wer mir vorher nicht vertraut hatte, tat es spätestens jetzt- ich hatte einen Gott getötet. Für die Rebellion, in erster Linie allerdings für mich selbst. Diese Rache hatte das Feuer in mir allerdings kaum besänftigt. Es brodelte weiter in mir, wie ein Vulkan, der auszubrechen drohte. Dieser Kampf war noch nicht vorbei.
Während wir die tristen Gänge entlang liefen, herrschte ein unangenehmes Schweigen. Die letzten Wochen hatten wir kaum miteinander gesprochen, vor allem nicht darüber, dass sie mir einen Teil ihrer Seele gegeben hatte. Vermutlich war es besser so. Ich fand unsere üblichen Streitereien wesentlich angenehmer.

Lysanna öffnete die Tür zu einem der kleineren Besprechungsräume. Als wir eintraten, erblickte ich Ray und Kain, die sich über irgendetwas - die Farbe des Himmels?- zu streiten schienen, während zwischen ihnen ein schmächtiger Kerl mit roten Locken stand, der wie ein ängstliches Kaninchen zwischen ihnen hin und her sah. Seine Handgelenke waren von eisernen Ketten umschlossen, getränkt in Vasanistenblut, wie ich annahm. Ray hielt das Ende der Kette nachlässig in der Hand und fuchtelte aufgebracht damit herum.  ,,Wie konntest du nur die Chips vergessen?"