Kapitel 11.1

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~Cleo


,,Und dann war es weg? Einfach so?" Zeke warf mir von der Seite einen überraschten Blick zu. Gerade spazierten wir gemeinsam über den Campus. In der Nacht hatte es geschneit, sodass eine dünne Schneeschicht die Erde überzog. Ich nickte nachdrücklich. ,,Die letzten Tage waren echt ätzend. Es war viel los. Aber wenn ich ihn jetzt sehe, beginne ich wieder den Vollidioten zu sehen, den ich vor meiner plötzlichen Hasi-Grippe gesehen habe."

Das war die Wahrheit. Die ganze Sache mit Seth hatte mich vollkommen aus der Bahn geworfen und jeder Gedanke an ihn versetzte mir noch immer einen Stich, aber etwas Gutes hatte die ganze Sache doch an sich gehabt- ich war von meinem eigenartigen Dawson-Crush losgekommen. Vielleicht, weil ich so gewaltsam auf den Boden der Tatsachen zurückgerissen worden war, vielleicht aber auch, weil ich Esme und Dawson die letzten Tage beunruhigend oft miteinander herumknutschen gesehen hatte- aber ich war geheilt. Endlich sah ich wieder jenen Vollpfosten, der er war in ihm. Esme hingegen war noch immer vollkommen verschossen in ihn. Entweder, sie litt an akuten Geschmacksverwirrungen, oder sie wollte sich von dem ganzen Debakel mit Seth ablenken. Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. Denn was auch immer zwischen den beiden gelaufen war - oder auch nicht- ich wusste, dass Seth ihr wichtig war. Und ich wusste, dass sie das alles mehr mitnahm, als sie zugab.

,,Das ist gut", sagte Zeke. ,,Also, nicht das mit Seth und so- aber es ist gut, dass du von Dawson los bist."

,,Ja." Ich atmete aus. ,,Ist es."

Ich warf Zeke von der Seite einen Blick zu. Seine Perücke saß wie immer perfekt, sein Teint war leicht gebräunt und seine Augen dunkelgrün. Wenn ich ihn so sah, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass er in Wahrheit vollkommen anders aussah. Ich hatte ihn schon öfter darauf hingewiesen, dass er auch mit weißen Haaren gut aussah, aber er wollte es nicht. Und das war okay.

,,Wie sieht's bei dir aus?", hakte ich nach. ,,Wie stehst du zu den Einhörnern?"

Ich könnte schwören, dass Zeke unter der Make-up Schicht rot wurde. ,,Ich finde sie unverändert toll, fürchte ich", murmelte er. Ich wollte etwas darauf erwidern, als ich den Blick hob und sah, dass Rune uns entgegen kam. Im Wikingeroutfit und einer Flechtfrisur, bei deren Versuch ich mir sämtliche Finger gebrochen hätte. In typischer Rune-Manier wollte er natürlich an uns vorbeilaufen, als ich mich räusperte. ,,Hi Rune."

Er blieb stehe und drehte den Kopf in meine Richtung. ,,Cleophea."

Das war zwar weder eine Begrüßung, noch mein bevorzugter Name, aber immerhin nannte er mich nicht mehr 'Tochter von Tyche'. Wir machten Fortschritte.

,,Zeke, das ist Rune", stellte ich den Wikinger vor, der Zeke mit berechnend kühlem Blick musterte. Allerdings wirkte Rune immer kühl- Gefühlsregungen waren eine absolute Seltenheit bei ihm.

Zeke schenkte ihm ein kurzes Lächeln und nickte ihm zu. ,,Ich bin Zeke. Freut mich, dich kennenzulernen."

Goldene Iriden fokussierten ihn, Zekes Lächeln wirkte etwas nervös.

,,Er freut sich auch", warf ich ein.

In diesem Moment erklang plötzlich ein schrilles Geräusch. Zuerst blinzelte ich nur irritiert, dann aber verarbeitete mein Hirn die Information- Sirenen. Sirenen wie an dem Tag, an dem die Rebellion das Internat angegriffen hatte. Sirenen, wie an jenem Tag, an dem Matt gestorben war. Mein Puls schnellte in die Höhe, als ich sah, wie Rune neben mir die Axt von seinem Rücken löste und wie einen Baseball-Schläger schwang. ,,Bleib hinter mir."

,,Nicht schon wieder", murmelte Zeke neben mir.

Mein Herz pochte wie verrückt. War es wieder die Rebellion? Und... würde Seth diesmal bei ihnen sein? Scharen von schwarzgekleideten Wachen strömten an uns vorbei, während Rune erstaunlich gelassen, wie eine schützende Wand vor uns ging. Heute war ich wirklich nicht böse darum. Wir waren nicht sonderlich weit vom Eingang entfernt, dennoch wäre ich am liebsten umgedreht und in mein Zimmer gerannt. Bei den Göttern, ich wollte überhaupt nicht wissen, ob Seth dort war. Die Sirenen schrillten noch immer ohrenbetäubend laut, als der Eingang in Sicht kam. Ich sah schwarzgekleidete Wachen- und lange schwarze Umhänge. Es waren die Rebellen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und zwang mich dazu, den Blick nicht abzuwenden. Ich wollte mich nicht länger hinter Rune verstecken und stellte mich stattdessen neben ihn, Zeke war bereits irgendwo im Getümmel verschwunden. Das war sein Job. Würde irgendwann meiner sein. Rune sah mich an, sagte aber nichts. Stattdessen hielt er mir einen antik aussehenden Dolch hin. ,,Du musst nicht hier sein."

Meine Hände zitterten, als ich nach dem Dolch griff. Ich wollte davonrennen. Und gleichzeitig wollte ich stark sein. Seth war keiner von uns mehr, das musste ich akzeptieren. Und vielleicht sollte ich heute damit anfangen.

,,Danke."

Rune nickte mir zu. Gemeinsam gingen wir weiter nach vorne, bis kurz vor den den Eingang. Plötzlich wurde es hell. Schwarz-rot marmoriertes Feuer flammte auf, baute sich wie eine schützende Wand zwischen Rebellen und Wachen auf. Ich spürte die bedrohliche Hitze auf der Haut, gleichzeitig lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Seth. Seths Flammen. Er war bei ihnen. Die Wachen traten zurück, während sich das göttliche Feuer wütend weiter ausbreitete, jedoch niemanden angriff. Für einen Moment herrschte Totenstille. Dann hörte ich eine vertraute Stimme, deren Klang mir die Nackenhaare aufstellte. ,,Wenn ihr nicht sterben wollt", zeriss sie die Stille, ,,rührt ihr euch nicht von der Stelle."

Die Flammen flackerten und ich erhaschte einen kurzen Blick auf einen schwarzen Umhang. Einen zerzausten blonden Haarschopf. Ich wollte Luft holen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Es war Seth. Und er stand auf der falschen Seite dieser Flammen.

Das Feuer ebbte etwas ab und gab den Blick auf den Gott frei. Seth stand dort, mit ausgebreiteten Armen. Die Flammen tanzten um ihn herum, umhüllten seinen Körper. Der Umhang seiner Rüstung wehte im Wind und an seinem Hals prangte unübersehbar das rote Zeichen der Rebellion. Hinter ihm strömten die Rebellen über den Campus, zielstrebig auf ein Gebäude zu. Das Gefängnis, wenn ich mich recht erinnerte.

Ich holte tief Luft. ,,Was wirst du tun?", fragte ich Rune.

Er sah zu mir herab. ,,Abwarten."

Mit jeder Antwort hatte ich gerechnet, jedoch nicht mit dieser. Er würde Seth nicht angreifen oder umbringen? Einfach zugucken? Ich riss die Augen auf. ,,Aber... warum?"

,,Es gäbe mehr Tote, wenn ich eingreifen würde."

Mein Blick wanderte wieder zu Seth. Die Wachen starrten ihn noch immer an, als wüssten sie nicht, was sie tun wollten, während die Rebellen hinter ihm im Gefängnis verschwanden. Neben ihm stand die lilahaarige Rebellin, die er am Tag seines Aufbruchs befreit hatte, auf der anderen Seite stand ein Typ mit schwarzem Haar, den ich nicht kannte. Ein paar vorlaute Wachen schoben sich weiter nach vorn. Ich wusste ehrlich nicht, was ich an Ihrer Stelle getan hätte. Ich glaubte nicht, dass Seth zögern würde, auch wenn ich es so sehr hoffte. Aber er verzog keine Miene, als sein Blick über die Leute vor ihm glitt. Als wäre er ein Löwe inmitten von Antilopen.

,,Tretet zurück", fauchte er. Ich konnte nicht anders, als die Tätowierung auf seinem Hals anzustarren. Sie trennte ihn von hier. Sie trennte ihn von dem Ort, der einst sein Zuhause gewesen war. Am liebsten würde ich auf ihn zurennen und ihn schütteln, bis er endlich zur Vernunft kam, aber das half nicht. Es half alles nichts mehr. Entgegen von Seths Warnungen, näherten sich die Wachen.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Rotes Feuer schoss aus Seths Händen, wie ein gefräßiges Tier. Es schnappte nach den Wachen, die daraufhin Feuer fingen. Grausame Schreie waren zu hören, dann sanken sie in sich zusammen. Mein Herz pochte wie verrückt, als die Schreie verstummten und der Wind die restliche Asche verwehte. Die Kälte in Seths Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Er neigte den Kopf zur Seite. ,,Noch jemand?"

Mein Sichtfeld verschwamm. Zuerst wusste ich nicht, weshalb, dann aber floss etwas nasses über meine Wangen. Ich... weinte. Wegen Seth. Wegen allem. Ich schniefte und wischte die Tränen nicht fort. Ich wollte nichts mehr sehen. Ich hatte genug gesehen.
Warme Finger umfassten meine Hand. Irritiert senkte ich den Blick und wischte mir über das Gesicht. Eine bleiche Hand umschloss die meine, schwarze Runen waren auf die Fingerknöchel tätowiert. Die Wärme fühlte sich tröstlich auf meiner eiskalten Haut an. Langsam hob ich den Blick, er traf auf ein bernsteinfarbenes Augenpaar. ,,Du musst nicht hier sein", wiederholte er, was er vorhin gesagt hatte. Wie in Trance ließ ich mich von Rune fort führen. Mein Blick glitt zu Seth, der wie ein Todesgott in einem Meer aus schwarz-roten Flammen stand. Hinter ihm kamen die Rebellen zurück, sie führten einige verwahrlost aussehende Menschen zum Ausgang. Sie sahen furchtbar aus. Als hätten sie den Tod berührt.

,,Guckt sie euch an." Seths Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken, mein Sichtfeld verschwamm erneut. ,,Und entscheidet euch, für welche Leute ihr kämpfen wollt."

Runes Hand schloss sich fester um meine, als er mich weiter zog und wir die Rebellen, die Wachen und Seth hinter uns ließen.


Nummer 13 - Todessohn IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt