⊶55⊷

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Taehyung Pov

Vollkommen Geistesabwesend starrt Jungkook über die Schulter seines Bruders, der gegenüber von ihm auf der anderen Seite des Tisches sitzt, gegen die Wand. Was er dort sieht weiß ich nicht und ich bezweifle, dass es die Tapete ist, die er dort voller Faszination betrachtet, bedenkt man den Gesichtsausdruck, der viel eher an die Momente Yoongis erinnert wenn er in Gedanken vertieft ist. Aber das hier ist nicht Yoongi, zumindest glaube ich das nicht, denn von einem Switch habe ich nichts mitbekommen.

"Was ist bloß los mit diesem Jungen? Gott weiß was für Drogen dieser Bengel zu sich nimmt." Kaum hat sein Vater die Worte gesprochen, springt Jungkook wie von der Tarantel gestochen auf. Das seine Worte eine Art Wecker aus der Trance waren bezweifle ich, es scheint viel eher so als würde er erst jetzt realisieren wo er sich befindet.

Sein Blick wandert einmal durch die Runde, bleibt an jedem von uns mehrere Sekunden, gefühlte Minuten sogar, hängen. Am liebsten würde ich seinem Vater die Meinung sagen, ihm alles vorwerfen was er als solcher falsch gemacht hat und das er seit wir hier sind kein einziges Freundliches Wort an seinen Sohn verloren hat.

Die beiden haben ihn hierher eingeladen, sie wollten mit ihn sprechen, nicht anders herum, also heißt das dass sie ihn wahrscheinlich um etwas bitten wollen. Aber erwarten sie tatsächlich das Jungkook ihnen irgendeinen gefallen tut wenn sie ihn behandeln wie den letzten Dreck, bei dem sie es nur noch nicht geschafft haben ihn zu entsorgen? Er ist ihr Sohn, aber bei jedem Menschen auf der Straße, von dem ich angerempelt werde und eine Entschuldigung erhalte, spüre ich mehr Liebe kommen als von den beiden.

Ich bin wütend, ich bin verdammt wütend und am liebsten würde ich wirklich meine Gabel nehmen, sie in das wahrscheinlich sehr teure Holz des Tisches rammen und ihnen sagen das ich das gleiche gerne auch mit ihnen machen würde, aber ich komme nicht umhin zu bemerken das an den Worten des Vaters etwas dran sein könnte.

Jungkook nimmt keine Drogen, das ist eine sichere Sache, aber er benimmt sich tatsächlich komisch. Er wirkt vollkommen neben der Spur, als hätte er geschlafen und wäre gerade erst an einem ihm vollkommen fremden Ort aufgewacht. Das ist aber nicht alles. Meine Wut sieht man mir nicht an, ich kann sie gut zurück halten, aber die Art und Weise wie er seine Eltern ansieht ist beinahe beängstigend. Das ist nicht nur Wut, es ist purer und bodenloser Hass den ich ohne Zweifel in den Augen schimmern sehe. Aber es sind nicht Jungkooks Augen.

Ein schlimmer Verdacht beschleicht mich, aber kaum hat mein Verstand es geschafft sich etwas aus dem, was gerade geschieht, zusammen zu reimen, ergreift Jungkook auch schon die Flucht. Sein Stuhl fällt mit einem lauten Knall auf den Boden und zerreißt die Angespannte Stimmung in diesem Raum. Die Mutter weicht zurück als er an ihr vorbei durch die Tür des Esszimmers rennt und auch diese zu knallt.

Keiner von uns sagt etwas, selbst Jungkooks Bruder ist fassungslos über sein Verhalten, aber während seine Familie sich daran wohl am wenigsten die Schuld gibt, bin ich in Gedanken noch immer bei den Augen. Das war auf keinen Fall Jungkook, darauf würde ich meine Hände und Füße verwetten, aber ich weiß auch nicht welche von den anderen Persönlichkeiten es war und vor allem wann der Switch geschehen ist.

Sonst ist es immer offensichtlich, denn der Wechsel der Persönlichkeiten ist für Jungkook oft mit starken Schmerzen verbunden. Er kriegt Krämpfe, fässt sich an die Schläge und fängt manchmal auch an zu weinen, weil es so schlimm für ihn ist. Wieso war dieser Wechsel also so flüssig? Als hätten die beiden lediglich die Sitze im Verstand getauscht.

Bevor einer von seinen Eltern das Wort ergreift und mich mit dem was sie sagen ebenfalls aus der Fassung bringen kann, stehe ich ebenfalls auf und verlasse ohne ein Wort des Abschiedes oder des Dankes den Raum. Das Essen haben sie sowieso nicht selber zubereitet und ihre Gesellschaft war eher etwas wofür ich Gott verfluche statt ihm zu danken.

Ich mache mich bereits darauf gefasst das ganze riesen Haus nach ihm absuchen zu müssen, sehe aber sofort die weit offen stehende Tür am Ende des Flures aus der laute Geräusche von zerbrechenden Gegenständen zu mir dringen. Sofort setze ich mich in Bewegung und hoffe, dass er noch nicht allzuviel kaput gemacht oder sich sogar dabei verletzt haben könnte.

"Jungkook!", rufe ich den Namen meines Freundes, obwohl mir klar ist, dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um jemand anderen handelt. Er dreht sich ertappt zu mir um, die Fernbedienung des Fernsehrs in der Hand, die er gerade im Begriff war durch eines der Fenster zu werfen. Kurz wirkt er überrascht über meine Anwesenheit hier, leicht verwirrt sogar und das obwohl er mich vor wenigen Minuten erst im Esszimmer gesehen hat. Dann verengen sich seine Augen.

"Du", zischt er, wirft die Fernbedienung beiseite und kommt direkt auf mich zu. Erst jetzt wird mir klar, um wen es sich hier handelt. Es gibt nur einen, mit so dunklen Augen und mit so viel Hass in sich. Seine Hand ist nach mir ausgestreckt, er legt sie sogar tatsächlich kurz um meinen Hals, genau wie das erste mal als wir beide uns begegneten und spätestens jetzt hätte ich Gewissheit darüber das er es ist, aber er lässt mich auch gleich wieder los.

Statt mich zu würgen, ballt er die Hand zu einer Faust und schlägt so fest er kann gegen den Bildschirm des Fernsehers. Ich hole tief Luft, als dieser durch die aufgebrachte Kraft nach hinten kippt und mit einem lauten Knall auf dem Boden landet.

"Ihr habt meine Tagebücher gelesen, nicht wahr?" Seine Lippen sind wütend aufeinander gepresst, sein Kiefer angespannt und obwohl die Knöchel seiner rechten Hand bereits bluten, hat er sie nach wie vor zu einer Faust geballt, bereit mit mir das gleiche zu machen wie mit dem Fernseher.

Er hat recht, natürlich hat er das und trotz meiner Angst was er in seiner Wut tun könnte nicke ich auch, trotzdem stimmt etwas nicht. "Woher weißt du das?"

"Woher?", ahmt er mich verächtlich nach und fährt sich durch die Haare. "Er fängt an sich zu erinnern, er fängt an daran zu zerbrechen, daher weiß ich das."

"Er zerbricht nicht daran", schieße ich sofort zurück. "Er schafft das."

"Und warum bin ich dann hier? Wenn er so gut mit der Wahrheit klar kommt wie du behauptest, warum hat er sich in dem Moment zurückgezogen, als diese Monster wieder angefangen haben auf ihm herum zu trampeln?"

Diese Monster? Um zu wissen, dass er damit Jungkooks Eltern meint brauche ich gar nicht erst nachdenken, aber warum hat er so viel Verachtung für sie übrig? Vorhin, als wir noch am Tisch saßen, da dachte ich das der Hass in seinen Augen mir gelten würde, aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher.

"Was haben sie getan?", frage ich und sehe ihn forschend an. "Warum hasst du sie und Jungkook so sehr?"

"Hass?", fragt er eher an sich selber gerichtet als an mich, ganz so als müsste er dieses Wort erst einmal für sich selber definieren. "Wenn du mich fragst, ist der Hass nur eine Sammlung aller Gefühle. Er ist Verzweiflung, über etwas was du nicht ändern kannst, er ist Angst vor etwas, was du nicht imstande bis zu akzeptieren und er ist die Wut über alles, was ist, aber was du so nicht haben willst. Doch er ist auch Freude, Glück und Liebe, die dir alle genommen werden und die dich doch nur wieder in den Hass treiben. Ich hasse diese Menschen, aus Gründen, die dich gar nichts angehen, aber ich hasse Jungkook noch viel mehr.
Ich hasse ihn, weil er aus mir alles schlechte gemacht hat, was er eigentlich hätte sein sollen."

Faces |Vkook|Where stories live. Discover now