⊶86⊷

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Taehyung Pov

Stumm starre ich das falsche Grab der Nachbarskatze an, während ich auf der Gartenschaukel sitze, die Jungkook gekauft hat seitdem wir hier draußen mehr Zeit verbringen, als uns vielleicht gut tut. Seit Jin verschwunden ist, bemerke ich, wie sich auch in Jungkook etwas verändert.

Er wirkt etwas in sich gekehrt in den letzten Tagen, Jackson sagte mir, dass er Probleme mit seinen Eltern auf der Arbeit hatte, weil er alle Aufgaben den Mitarbeitern überträgt, statt sie selber zu tun. Es ist, als hätte sich etwas ganz entscheidendes an seiner Einstellung einigen Dingen im Leben gegenüber geändert, nur er selber scheint noch genau derselbe Mensch zu sein, der er immer war.

Jackson hat Recht, er wirkt in sich gekehrt, manchmal sagt er etwas, unterbricht sich mitten im Satz und vergisst, dass er eigentlich etwas sagen wollte. Er fängt an mit den Gedanken abzuschweifen, als wäre ein Teil von ihm in einer ganz anderen Welt und dennoch mache ich mir keine Sorgen.

Er hat Jahre damit verbracht, seinen Körper mit sieben anderen Persönlichkeiten zu teilen, Jahre die er niemals zurück bekommen wird, aber denen er auch nicht hinterher trauert. Ich weiß, dass er es nicht zugibt, aber er scheint die anderen zu vermissen, auch wenn die Erleichterung darüber endlich die Wahrheit zu wissen und die ohnehin wenige Zeit, die das Leben bietet, nicht mehr teilen zu müssen, enorm groß sind.

"Verspürst du schon das Bedürfnis, ins Krankenhaus zu gehen und den Arzt spielen zu müssen?", frage ich während ich beobachte wie der Wind mit den Blumen spielt, die Jungkook vor einigen Wochen gepflanzt hat.

Er richtet sich gerade hin, als hätte er jetzt erst realisiert, wo er sich eigentlich befindet. Kurz runzelt er die Stirn, bevor er lächelt und den Kopf schüttelt. "Nein, aber ich spüre tatsächlich, wie sich etwas verändert hat." Ich sehe, wie sein Blick kurz zu den weißen Tulpen wandert, die er auf dem falschen Grab der Katze gepflanzt hat, dem Ort, wo Hoseoks Tagebücher versteckt waren. "Ich fange an über Dinge nachzudenken, denen ich früher keine Beachtung geschenkt habe, vielleicht aus Angst, der Angst vor Veränderung, aber es ist als hätte ich neuen Mut und Hoffnung dazu gewonnen."

Ich nicke und kann ein lächeln nicht verkneifen als ich ihn ansehe. "Deine Persönlichkeiten haben jeder eine Emotion übernommen, mit der du während der Entführung überfordert warst, aber das heißt nicht, dass dir diese Emotionen all die Zeit völlig Fremd waren. Mut, Hoffnung, Hass, du hast sie dennoch empfunden, nicht wahr? Ich denke das, was gerade mit dir geschieht ist nur ein Zeichen dafür, das sie nicht komplett weg sind, das sie ein Teil von dir sind und du deswegen all diese Emotionen wieder mit voller Intensivität verspürst, denn sie existieren nicht mehr nur neben dir her. Sie sind in dir."

Ich senke den Blick, nachdem ich all das gesagt habe und lasse meinen Blick wieder zurück zu den Blumen wandern. Erst jetzt verstehe ich, dass all das nicht nur auf Jungkook zutrifft, sondern auch auf mich. Ich rede mir selber ein, dass wir sie nicht getötet haben, sowie sie es immer gefürchtet haben und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie einfach verschwunden sein sollen, aber dennoch plagt mich seit Namjoons verschwinden ein erdrückendes Gefühl. Bis jetzt.

Es stimmt, ich weiß nicht, ob es Himmel und Hölle gibt, ein Leben nach dem Tod oder vielleicht sogar die Wiedergeburt, aber was ich weiß ist, dass diese sechs schon immer in Jungkook existiert haben, vor der Entführung bereits und auch jetzt noch. Sie haben sich vielleicht verabschiedet und sind gegangen, aber sie werden niemals weg sein, weil sie immer ein Teil von ihm sein werden.

"Glaubst du er hasst mich dafür? Ist das der Grund, warum er nicht mit uns spricht?", fragt Jungkook und sieht mich von der Seite an. Ich drehe mich zu ihm und betrachte ihn eine Weile ohne etwas zu sagen. Jackson mag sich vielleicht Sorgen machen, weil Jungkook eine Veränderung durchmacht, aber er hat noch nie besser ausgesehen als jetzt, noch nie vollkommener und dennoch erkenne ich da einen Funken Verzweiflung in seinen Augen.

Auch ohne das er mir sagt, von wem er spricht, weiß ich es bereits. Sie haben sich alle verabschiedet bevor sie gingen und sie gingen alle Freiwillig, aber Hoseok war schon immer die schwierigste von Jungkooks Persönlichkeiten, es wundert mich nicht, dass er auch seinen Weggang schwer gestaltet, selbst wenn ich ihm das nicht groß verübeln kann. Es muss schwer sein, wenn die einzige Familie, die man kennt geht und du der bist, der es als nächstes tun sollte, aber du nicht einmal weißt wohin.

"Er hasst dich nicht", sage ich und hebe die Hand um sie ihm auf die Wange zu legen, mit der anderen nehme ich seine in meine. "Sie haben jeder eine Persönlichkeit übernommen, aber das heißt nicht, dass es die einzige ist, die sie empfinden. Namjoon, Jimin, Yoongi, Jin und Sooyoung, sie waren alle real, wie echte Menschen, mit echten Gefühlen. Ich denke nicht, dass du es bist, den er hasst."

"Wer ist es dann?", fragt er hoffnungsvoll und erst jetzt, als ich das leichte glänzen in seinen Augen erkenne, das es so wirken lässt als könnte er jeden Moment anfangen zu weinen, verstehe ich, warum ihn all das so beschäftigt.

Ich habe all die Zeit darüber nachgedacht, wie sich die anderen dabei fühlen wegzugehen, an einen Ort, von dem niemand von uns weiß wie er aussieht und ob es ihn überhaupt gibt, dabei habe ich aber eine Sache übersehen. Jungkook war die Hauptpersönlichkeit, im Gegensatz zu ihnen hat er immer existiert und dennoch war er nicht anders als sie.

Er hat sie akzeptiert, trotz all der Dinge, die sie in seinem Körper gemacht und trotz all der Schwierigkeiten, in die sie ihn gebracht haben. Er hat sie nicht nur akzeptiert, er hat sie ins Herz geschlossen und für ihn waren sie ebenso Familie, wie sie es für Hoseok waren. Sie waren die Menschen, die ihn in seiner schwierigsten Zeit begleitet haben ohne ihn zu verurteilen und sie haben ihn nie im Stich gelassen.

Das Lächeln verschwindet langsam aus meinem Gesicht, als mir die Antwort auf seine Frage klar wird.

Ich erinnere mich noch an das erste Treffen, das ich mit Hoseok hatte, ich könnte niemals vergessen wie er auf dem Parkplatz der Uni auf mich wartete und bereit war mich zu töten um seinen Ring zurück zu bekommen. Ich erinnere mich an den Ausdruck in seinen Augen und nachdem ich seine Tagebücher gelesen habe, wage ich sogar zu behaupten ich würde ihn verstehen.

„Die Linie zwischen Hass und Liebe ist dünn. Er liebte Jimin, das tat er ohne jeden Zweifel, denn er war ein ganz anderer Mensch, wenn er bei ihm war." Ich senke den Kopf, nicht in der Lage ihn anzusehen während ich die nächsten Dinge sage. „Er dachte, du wärst Schuld an dem Hass, den er verspürt, dabei ist niemand Schuld. Er hat während der Entführung so gehandelt, wie er es für am besten hielt und jedes Mal, wenn es ihm nicht gelungen ist, dir und den anderen zu helfen, wuchs sein Hass. Er hasste die Männer, die euch das angetan haben und deine Eltern, die in seinen Augen noch größere Monster waren, aber vor allem hat er sich selbst gehasst."

„Ist das ein Psychologen-Ding? Wie kannst du das mit solcher Sicherheit wissen?", fragt Jungkook und legt seinen Zeigefinger und Daumen an mein Kinn um meinen Kopf wieder hochzuheben, damit ich ihm in die Augen sehen kann.

Ich versuche zu verstecken, wie sehr es mich mitnimmt alleine daran zu denken, was Hoseok all die Jahre für sich behalten haben muss, weil er glaubte es wäre seine Pflicht. Das hier ist kein Psychologen-Ding, ich habe seine Tagebücher gelesen und erst jetzt erkenne ich den Schmerz, den er damit versucht hat zu vergraben.

„Er ist ein Mensch, Jungkook und nichts zerfrisst Menschen mehr als Selbsthass."


















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Hier auch mal wieder nach einer Ewigkeit zurück um euch das Ende zu liefern, worauf ihr bereits lange genug warten musstet 😅

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⏰ Last updated: May 27, 2019 ⏰

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