⊶64⊷

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Jungkook Pov

"Ich erinnere mich", wiederhole ich und starre das Auto im Hintergrund des Bildes an nachdem all die anderen Bilder der Erinnerungen aufgehört haben vor meinem inneren Auge vorbei zu rasen und ich wieder in die Realität finde.

Es fällt mir schwer mich wieder auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Selbst Taehyungs Berührungen, sein Geruch und seine Wärme kommen mir so unwirklich vor, dass ich ihn sofort ab schüttle. Realität und Vergangenheit verlaufen ineinander, die verschiedenen Szenarien fangen an sich zu ähneln und Personen, die ich definitiv nicht aus der Gegenwart kenne, tauchen vor mir auf.

Taehyung streckt die Hände nach mir aus und nimmt mich langsam, als wäre ich ein Kind, in den Arm. Fast schon panisch reagiere ich auf diese Geste der Vertrautheit, aber ich beruhige mich auch genau so schnell wieder.

Ich gewöhne mich wieder an seine Stimme, die beruhigend einzelne Wörter murmelt, an seine Hände auf meinem Rücken und den Geruch seines Shampoos auf der Haut. Es dauert nur wenige Sekunden um mich aus dem Chaos in meinem Kopf wieder zurück in die Wirklichkeit zu holen und daran zu erinnern was soeben eigentlich passiert ist.

Das hier war meine Vergangenheit. Die Dinge, die ich gesehen habe, das ist mir wirklich passiert, auch wenn es mir nur so vorkommen mag wie ein Film, das ist es leider nicht und das macht es nur umso unfassbarer für mich.

Ich habe mich selber gesehen, so jung und vollkommen Naiv, aber ich kann nicht wirklich glauben das ich das war. Es ist, als wären das die Erlebnisse eines fremden Jungen gewesen und erst als ich das Mitleid diesem jungen gegenüber gespürt habe, wurde mir klar das ich er bin.

"Es war mein neunter Geburtstag als dieses Foto geschossen wurde", beginne ich wie von alleine zu sprechen. Ein wenig erinnere ich mich selber an ein Videoband, das Taehyung pausiert als er seine Hand in meinen Haaren vergräbt und mir einen Kuss auf die Stirn drückt.

"Du musst nicht sofort anfangen mir zu erzählen was du gesehen hast. Wir können auch einfach nur sitzen und schweigen damit du dich ausruht. Ich kann warten, so lange wie du nur willst."

"Ich kann aber nicht mehr warten." Zum ersten mal seit einer gefühlten Ewigkeit sehe ich hinauf zu ihm, direkt in seine Augen und schüttle den Kopf. "Ich habe das Gefühl ich würde ersticken wenn ich es niemandem sage. Bitte hör mir zu, Taehyung."

Ich weiß selber wie verzweifelt ich klingen muss, aber es ist das erste mal das ich mich so fühle, als würde ich zu viel wissen ohne damit irgendwohin zu können. Was bringt es mir mich zu erinnern und mir selber wieder all den Schmerz an zu tun wenn ich damit nirgendwo hin kann? Taehyung war in der letzten Zeit immer für mich da, ich kann mir einfach gar nicht mehr vorstellen ohne ihn zu sein.

Selbst wenn ich es tatsächlich ohne ihn schaffen könnte wieder ein normales Leben zu führen ohne sechs andere Persönlichkeiten in mir, so ist es kein Leben, das ich gerne führe.

Und Taehyung weiß das. Er weiß es und wie immer reagiert er genau so wie ich es brauche. Er schlingt seine Arme noch fester um mich, haucht mir einen Kuss auf den Kopf und lässt mich mein Gesicht an seiner Brust vergraben.

"Ich bin hier, du kannst mir alles erzählen."

Erleichtert schließe ich die Augen und denke wieder an die Bilder während ich in Gedanken allen Göttern für diesen Menschen danke. "Meine Eltern hatten ein ganzes Gebäude gemietet und hundert Gäste eingeladen, denn Geburtstage wurden bei uns immer unglaublich groß gefeiert. Mein Bruder und ich sollten zusammen in einem Auto hin gefahren werden, aber wir kamen nie dort an. Für die Fahrt waren eigentlich nur 20 Minuten eingerechnet, aber aus diesen wurde 2 Stunden und irgendwann merkte Yeongsu das wir die Stadt verlassen hatten."

Es ist plötzlich so deutlich spürbar, als hätte ich das nie vergessen und schon immer gewusst. Ich spüre seine Hand auf meiner als er mir damals ins Gesicht sah und mir sagte das etwas nicht stimmt und ich spüre den Blick des Fahrers auf uns als ihm klar wurde das wir zwar kleine Jungs waren, aber nicht dumm.

"Yeongsu sprang mit mir an seiner Hand sofort aus dem Auto als es anhielt, aber wir waren zu langsam und wussten außerdem nicht wohin wir gehen sollten. Es war ein Haus an der Straße, aber es war das einzige weit und breit, ohne Nachbarn oder Geschäfte bei denen wir uns Hilfe holen konnten. Es war quasi hoffnungslos.

Insgesamt waren es sechs Männer, die uns in das Haus zerrten. Yeongsu wehrte sich mit all seiner Kraft und alles was ich tun konnte war zu weinen während sie uns in den Keller schleppten wo sie bereits einen Raum mit zwei dünnen Matratzen vorbereitet hatten. Wir hatten beide Angst, wir wussten nicht was mit uns geschehen würde, aber keiner von uns hätte gedacht, dass sich das alles zu einem solchen Albtraum entwickeln würde."

"Ihr beide wurdet entführt", fasst Taehyung meine ganze Erzählung fassungslos zusammen.

"Alles was sie wollten war Geld, es war eigentlich ziemlich simpel und etwas worauf meine Eltern schon immer vorbereitet waren, aber die Summe die sie wollten war hoch und in Zeiten wo es dem Geschäft nicht am besten ging sogar zu hoch für sie. Sie verhandelten Wochenlang und kamen schließlich zu einer Einigung. Sie überwiesen den Männern die Hälfte des geforderten Betrages für eines ihrer Kinder und versprachen die andere Hälfte so schnell wie möglich für das andere Kind zu besorgen."

Ich höre wieder Yeongsus Stimme in meinem Kopf, spüre seine Hände die mich packen als die Männer ihn von mir weg ziehen und ihn aus dem Raum bringen. Ich spüre die Angst, einerseits um mich selber weil ich nicht weiß was aus mir wird, aber noch viel größer ist die um meinen Bruder gewesen. Es war das schrecklichste was ich jemals erlebt habe, aber das war bevor mir klar wurde wie tief der Verrat der Menschen sitzt, in die ich meine ganze Hoffnung gesteckt habe.

"Ich wartete tagelang, schwankte zwischen Freude und Nervosität, aber es kam nie jemand. Yeongsu und ich waren nur einige Wochen da unten bevor er befreit wurde, aber ich war insgesamt drei Jahre dort."

"Moment", sagt Taehyung sofort, löst sich ein wenig von mir und sieht mich ungläubig an. "Deine Eltern haben ihnen das Geld doch dann gegeben, nicht wahr? Warum haben sie dich dann nicht gehen lassen?"

Ich sehe in seinen Augen das er eine Vermutung hat, aber das er sich weigert es zu glauben. Auch mir fällt es schwer zu begreifen das es tatsächlich solche Menschen gibt. Menschen, die bereit sind für Materielle Güter und Geld andere Menschen, sogar ihre eigenen Kinder, im Stich zu lassen.

Alleine dieser Gedanke macht mich wütend und komischerweise kommt mir auch zum ersten mal der Gedanke, dass Hoseoks Hass in keinster Weise übertrieben ist, denn ich spüre ihn jetzt auch.

"Sie hatten keinen Grund mich gehen zu lassen, meine Eltern hatten sie belogen. Das Geld kam nie."








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Jetzt geht es auch hier wieder weiter 😄

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