14. Jaylin: Hilfe

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„Also" Chad klatschte die Hände zusammen und sah mich an. „Dann sollten wir mal wieder gehen. Anni killt mich, wenn ich schon wieder so spät nachhause komme"

Ich konnte meine Traurigkeit nicht verbergen.
Der Abend hier war richtig cool und lustig gewesen und irgendwie wollte ich nicht zurück in mein Zimmer, in dem nur die Einsamkeit und mein Selbstmitleid auf mich warteten.
In diesem Haus war so viel los, es wurde nie langweilig und Austin hatte so viel zu erzählen, dass es immer etwas zu lachen gab.

„Also du kannst meinetwegen auch hier pennen", als Austin das sagte, als sei es nichts, sah er mich fragend an.

Ich blickte zu Chad.

Er seufzte. „Das wird dein Dad niemals erlauben."
„Ein Grund, es zu tun", grinste ich.

Somit war es beschlossene Sache. Ich war immerhin volljährig, ich konnte machen, was ich wollte... Naja... Ein Bisschen zumindest...

Ein Blick zu Austin verriet mir, dass er über mein Verhalten lachend den Kopf schüttelte.

„Bist du dir sicher?", fragte Chad mich.

Ich nickte. „Ich komme klar, du kannst gehen"

Er sah mich misstrauisch an. Ich erkannte, dass ihm dabei nicht wohl war.

Das mochte mehrere Gründe haben, wie zum Bespiel, dass er hier bewusst gegen den Wunsch seines Arbeitgebers verstieß, dass er wusste, dass ich ohne ihn nicht wirklich zurecht kam, dass ich dann alleine wäre in einem Haus voller Verrückter... Bluttrinkender Verrückter.

Ich wusste das alles, aber trotzdem blickte ich Chad flehend an, damit er mich hier ließ. Ich wollte mir die Diskussion, dass ich ihn brauchte, ersparen. Wir wussten das alle, auch Austin.

„Ich kümmere mich schon um ihn, Chad. Geh zu deinem Mädchen"

Chad seufzte, wuschelte mir beim Vorbeigehen durch die Haare, verabschiedete sich von Austin und war dann auch schon weg, aber nicht ohne mir vorher zu sagen, dass ich ihn anrufen sollte, egal was war und egal um welche Uhrzeit.

Dann saßen Austin und ich uns alleine gegenüber und erst jetzt merkte ich, wie ruhig es im Haus geworden war.

Kein Wunder, es war auch schon ziemlich spät. Wir hatten vorhin die Anderen noch zum Abendessen getroffen, aber dann waren sie wieder ihrer Wege gegangen und weil nun auch Chad weg war, war ich mit Austin ganz alleine.

Ich wollte schon die ganze Zeit eine bestimmte Frage stellen, doch ich fand die richtigen Worte nicht.  Jetzt war jedoch Ruhe eingekehrt und ich rückte einfach mal raus.
„Dieser Boris... ist das der, von dem du mir mal erzählt hast? Dein bester Freund/ Ex Schwarm?"

„Das hast du dir gemerkt?", fragte Austin verblüfft.
Ich zuckte mit den Schultern.

Er lächelte leicht, als er sich durch die Haare fuhr. „Ja, das war der Boris, den ich damals gemeint habe. Aber wie gesagt, ich bin über ihn hinweg. So oft wie Charlie ihn lautstark nagelt, kann ich es gar nicht anders sein", dabei lachte er leicht und ich zog die Augenbrauen hoch. „Hat er deshalb so gehumpelt?"

Von so einem Hünen würde ich mich sicherlich nicht freiwillig in den Arsch ficken lassen. Das versprach doch nur Schmerzen. Ich fragte mich schon, wie Dad auf sowas stehen konnte, wobei ich ja gar nicht wusste, ob er ein Passiver oder Aktiver war und eigentlich wollte ich es auch gar nicht wissen. Ekelhaft diese Vorstellung.

Austin nickte. „Charlie ist eigentlich immer sehr ausgeglichen, seit er Boris hat, aber beim du weißt schon... scheint es mit ihm durchzugehen."

Unterhielten wir uns gerade ernsthaft über den Sex seines besten Freundes? Jap.
Er schien den Gedanken zur selben Zeit zu haben, denn er begann zu lachen, als ich schmunzelte.

„Gott, ich hab lieber Smalltalk als darüber zu sprechen"

„Das wäre mir auch lieber" Als eine dunkle Stimme ertönte, tauchte Charlie auch schon im Zimmer auf und zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Kurz nach ihm kam Boris.

Sie pflanzten sich auf das Sofa und schalteten den Fernseher an, als seien Austin und ich gar nicht da.

„Geht's noch? Ihr habt doch einen im Zimmer"

„Der ist von der Kommode gefallen", meinte Boris schulterzuckend.

Austin sah wütend aus. „Dann hättet ihr es vielleicht wie normale Leute im Bett und nicht an der verdammten Kommode mit dem Fernseher drauf treiben sollen. Meine Fresse, ihr regt mich schon wieder so auf!"

Er erhob sich und stampfte aus dem Raum. Kurz bevor er draußen war, sah er mich auffordernd an, sodass ich ihm hinterher fuhr.
Er wollte wohl in sein Zimmer gehen, doch da war ein kleines Hindernis im Weg. Und damit meinte ich eine Treppe mit ungefähr 30 Stufen.

„Ähm, Austin..."

Er seufzte schwer und versuchte sich abzureagieren. „Was?"

„Die Treppe" Ich deutete von ihr zu meinem Rollstuhl und sah ihn dann entschuldigend an.

Ich hasste das.

Oder das, was er jetzt vorhatte, denn er beugte sich runter und wollte mich wohl hochnehmen, aber ich drückte ihn weg. „Vergiss es, ich lasse mich nicht rumtragen wie ein Kleinkind!"

„Du bist so schlimm", sagte er genervt zu mir. „Lass doch einmal Hilfe zu, verdammt"

„Nein!", patzte ich.

Wir lieferten uns ein Blickduell, doch keiner von uns war bereit aufzugeben.

Das ganze ging solange, dass ich wie hypnotisiert in seine Augen starrte und erst bemerkte, dass eine Welt um uns herum auch noch existierte, als ich Boris' Stimme hörte: „Wieso sagst du ihm nicht das, was du mir damals gesagt hast?"

Ich riss meinen Blick aus Austins los und sah zu Boris, der lässig an der Wand lehnte. Er stieß sich ab und kam zu uns.

„Ich bin einer der wenigen, der nicht nur Schwachsinn redet, wenn er behauptet, er weiß, wie du dich fühlst, Jaylin", sagte er zu mir.

Bisher war er mir immer wie ein verrücktes Kind vorgekommen, doch nun wirkte er irgendwie total autoritär und vor allem: einfühlsam.

„Es ist zwar nicht annähernd dasselbe, aber ich hatte mal eine Handlähmung und ich muss mir nicht vorstellen, was in deinem Hirn gerade abgeht. Aber Austin hat mir damals klargemacht, dass man nicht schwach ist, wenn man Hilfe annimmt, sondern stark, weil es Kraft braucht, um sich seine Schwäche einzugestehen. Und er hatte Recht. Ich weiß zwar nicht, was du hast, aber fakt ist, dass du im Rollstuhl sitzt und diese Treppen nicht hochkommen wirst. Also entweder verschließt du deine Augen vor der Tatsche und gehst den Hindernissen aus dem Weg, oder du lässt dir helfen, darüber zu steigen. Ich will dir nicht sagen, was der richtige Weg für dich ist und ich weiß, dass es Überwindung kostet, jemandem so sehr zu vertrauen, seine Hilfe anzunehmen, wenn man selbst hilflos ist. Aber es nicht zu tun und zu flüchten wird dich irgendwann so fertig machen, dass du gar nicht mehr weißt , wovor du eigentlich wegrennst und dann wirst du glauben, es sei dein Leben und nicht nur die Tatsache, dass du diese Treppen nicht alleine hochkommst. Aber es sind nur Treppen, Jaylin. Und du bist nur ein Mensch." Seine braunen Augen sahen mich ruhig und treu an.

Ich versuchte in seinem Blick zu ergründen, ob er sich über mich lustig machte, doch er tat es nicht.
Im Gegenteil: Seine Worte bewiesen , dass er mich wirklich verstand. Dass es endlich mal nicht geheuchelt war. Und irgendwie fühlte ich mich sofort viel wohler.

Only mortal (Boyxboy)Where stories live. Discover now