48. Boris: Wahrheit

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Raphael, Silas, Charlie und ich hatten Krisensitzung.

Ich hatte Charlie endlich so weit, dass er mir die Wahrheit sagen wollte, doch was Silas und Raphael mit der Energiequelle zu tun hatten, wunderte mich.
Um mich ein bisschen bei ihm einzuschleimen, strich ich über Charlies Oberschenkel, solange er tief Luft holte.
„Zwischen Vampiren und Menschen ist kein Ort, Boris", sagte er dann unvermittelt.

Ich sah ihn verwirrt an. „Was denn dann?", fragte ich.
Ich hatte doch gewusst, dass er es wusste.

„Sag mir, was in den Aufzeichnungen steht", meinte er, während er meine Hand nahm.

Ich hatte diesen Satz so oft gelesen, dass ich ihn auswendig kannte.

„Zwischen Vampiren und Menschen findet sich unter dem Opfer aus Liebe der Jäger die Erfüllung des Willens eines reinen Herzens."

Charlie seufzte, so als habe er genau das gehört, was er nicht hatte hören wollen.

„Es ist eine Person", sagte er, schluckte. „Eine Person, die sowohl etwas von Vampiren, als auch Menschen in sich trägt"

Das verstand ich nicht. Vampire waren doch zum Teil Menschen. Sie tranken menschliches Blut. Also wer war diese Person?

„Was ist dieses Opfer aus Liebe?", wollte ich wissen.

„Das Leben", sagte Charlie. „Ein Jäger, der sein Leben für die Liebe zu seinem Vampir opfert."

Mein Hirn war so voll, dass ich auf dem Schlauch stand. Aber als ich so in die Runde sah und mein Blick an Raphael hängenblieb, kannte ich die Antwort und alle anderen auch.

„Raphael", hauchte Silas, als er ihn aus großen Augen ansah.
Er wirkte überfordert. „Was hab denn ich damit zu tun?"

Charlie stützte seinen Kopf mit einer Hand ab. Ihm gefiel diese gesamte Situation ganz und gar nicht, deshalb war ich ihm unendlich dankbar, dass er trotzdem endlich die Wahrheit sagte, für mich.

„Deine Kraft ist es, anderen deinen Willen aufzuzwingen und ihren zu beeinflussen. Aber du hast so viel mehr Potenzial, Raphael. Mit der richtigen Formel und deiner Macht kann man..."
Er unterbrach sich, biss sich auf die Lippe und sah zu mir.
„Deshalb wollte ich es dir nicht sagen. Das alles gefährdet Raphaels Leben. Ich weiß, dass du bereit bist, alles zu tun, um unser Leben unendlich zu machen, aber ich will Raphaels dafür nicht aufs Spiel setzen. Und wir wissen noch gar nicht, welche Opfer du bringen müsstest, damit dein Wille erfüllt wird..."

„Woher weißt du das alles? Das stand doch in den Jägerschriften", sagte Silas leicht perplex.

Charlie seufzte. „Ich kannte mal jemanden, der so war wie Raphael. Das ist mittlerweile über 500 Jahre her. Er hat seine Gefährtin gefunden und wurde unglaublich mächtig. Er war wie du, Raphael. Das war der Sohn eines Vampirs und einer Jägerin, er konnte den Willen von anderen beeinflussen und ihnen seinen aufzwingen, aber nach jahrelanger Übung hat er gelernt nicht nur seinen Willen wahr werden zu lassen, sondern auch den von anderen. Zuerst den seiner Frau. Sie war unfruchtbar, doch wollte nichts lieber als ein Kind. Er wusste das. Ihr das Kind zu geben, war eher zufällig und auch nicht auf dem Weg, wie er sich das vorgestellt hat. Das Kind war das einzig Überlebende eines Hausbrandes, was wie aus dem nichts einfach Feuer gefangen hat. Da das Kind obdachlos war und jeder wusste, dass sie es haben wollte, hat sie es bekommen. Ihren Willen. Aber sehr viele mussten dafür leiden. Dinge wie solche sind immer wieder passiert. Zu Anfang wurde er dafür verehrt, jedem einen Wunsch im Leben zu erfüllen, aber es lief immer schiefer, immer mehr sind zu schaden gekommen und Chaos ist ausgebrochen. Sie alle haben ihm die Schuld dafür gegeben, ihn als den Teufel bezeichnet. Ich konnte ihm nicht helfen, als sie ihn brutal abgeschlachtet haben und ihn als Opfergabe an Gott geben wollten, damit sie nicht von seinen Sünden belastet wurden. Dabei war die einzige Sünde die Gier der Leute, die seine Gabe ausgenutzt haben. Ihr Wille und ihre Wünsche haben ihn umgebracht. Und die selbst auch, denn sobald er tot war, ist alles, was er anderen gegeben hat, einfach zu Staub zerfallen. Das Kind seiner Frau, das niemals hätte überleben sollen, der Reichtum der Leute, alles was sie haben wollten. Und am Ende hatten sie nichts mehr."

Nachdem Charlie fertig war, herrschte eine bedrückende Stille im Raum.

Ich konnte nicht glauben, was er da erzählt hatte. Dass all meine Hoffnung gerade auseinander brach wie eine Vase, die man auf den Boden warf. In tausend Stücke.

„Wir sollten uns damit zufrieden geben, was wir haben", sagte Charlie, als er sich an mich wandte. „Wer weiß, wie der Wunsch schief gehen kann. Und was, wenn es den Leuten auffällt, wozu Raphael im Stande ist? Es wird sich alles wiederholen. Aber diesmal wird es schlimmer. Durch Medien wird es sich über die ganze Welt verbreiten. Und es werden mehr Leute zu schaden kommen als sowie damals nur ein Dorf." Er seufzte, als er mein Gesicht in die Hände nahm. „Es tut leid, dich enttäuschen zu müssen, Kleiner. Aber ich habe dir von Anfang gesagt, dass das nicht die Lösung ist"

Er hatte Recht, doch trotzdem war ich sehr enttäuscht und traurig.

Was ich aber nicht wusste, war, dass Raphael dieses Potenzial schon lange nutzte und Wünsche erfüllt hatte, ohne zu wissen, was er da tat.

Only mortal (Boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt