Rede und Antwort

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Die letzten zwei Tage war ich nicht in der Schule. Das war nichts außergewöhnliches, ich hatte die letzten vier Jahre immer wieder Phasen, in denen Schule für mich zweitrangig wurde. Das ging uns allen so und unsere Schule schien darauf spezialisiert zu sein, Schwänzern zu verzeihen. Außerdem schaffte ich es doch irgendwie immer wieder, zurückzufinden. Ich konnte eben einfach nicht zur Schule gehen. Zu sehr beschäftigte mich Etienne und sein plötzliches Verschwinden. Langsam keimte Wut darüber, dass er mich mit SEINEN Problemen allein gelassen hatte, in mir auf. War ihm denn nicht bewusst, dass diese Leute auf seine Familie zurückkommen würden, wenn sie ihn nicht auffinden können?

Steph hatte die vergangen Schultage fleißig für mich mitgeschrieben und mir die Unterlagen besorgt. Das machten wir immer so füreinander. Da ich morgen wieder zurückkommen wollte, beschloss ich abends bei ihr vorbeizuschauen und mich über den Stoff zu informieren. Ich konnte ja nicht ewig zu Hause bleiben und Schule würde mich von meinen Gedanken ablenken.

Draußen wird es immer kälter und ich ziehe mir einen dicken Pullover unter meine Jeansjacke. Hoffentlich würde das Geld nächsten Monat reichen, um mir eine Winterjacke zu kaufen. Meine alte hatte Jasper halb abgefackelt, als er besoffen mit einem Feuerzeug hantierte.

Der Weg zu Steph war nicht weit und so machte ich mich um kurz vor sieben auf den Weg. Ich konnte meinen eigenen Atem sehen uns konzentrierte mich darauf, auf die paar Meter nicht zu erfrieren. Ich dachte darüber nach, wie sehr ich den Winter hasste. In Frankreich soll es niemals so kalt werden wie hier. Leider war ich noch nie dort, denn die Flügen kosteten ein Vermögen. Dann drifteten meine Gedanken ab und ich träumte vor mich hin, irgendwann in Frankreich am Meer zu wohnen. Man wird ja noch träumen dürfen...

"Hallo Julie. Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten." Eine dunkle Stimme reißt mich aus meinen schönen Gedanken und ich sehe Mat, der komplett in schwarz gekleidet vor mir steht. "Mat...", flüstere ich seinen Namen und merke, dass ich ihn das erste Mal laut ausspreche. "Ich wusste doch, dass du meinen Namen kennst.", grinst er. "Du kommst jetzt mit mir mit." Und wenn ich nicht will? Doch meine Angst vor ihm ist viel zu groß. Ich könnte ihm hier im Viertel sowieso nicht entkommen und vielleicht haben sich die anderen fünf schon positioniert, um mich abzufangen. Er dreht sich um und geht voraus, als ich immer noch die angewurzelt dastehe. Dann dreht er sich um. "Du wirst doch wohl nicht so dumm sein und wegrenne, oder?" Ich schüttle den Kopf und folge ihm.

Wir bleiben vor einem großen, etwas heruntergekommenen Haus stehen. Er geht die Treppenstufen hinauf und schließt die Tür auf. Ich weiß genau, wo wir sind. Dieses Haus ist die Festung der Blinders, hier traut sich kein Polizist herein. "Worauf wartest du?", fragt er. "Sonst können es die Mädels kaum erwarten, mit reingenommen zu werden.", grinst er frech. Dieser Spruch hätte auch von Jasper oder Lenny kommen können. Sind denn wirklich alle Männer gleich? Zögernd steige ich die Treppenstufen hinauf und gehe an ihm vorbei in den Flur.

Die Wände im Flur sind kahl und anstatt einer Lampe hängt dort lediglich eine Glühbirne von der Decke. Er schließt die Tür und dreht den Schlüssel herum. Wunderbar, dann kann ich also nicht einmal um mein Leben rennen. Er geht an mir vorbei den Flur entlang und öffnet am Ende eine Tür. "Komm mit.", sagt er bloß. Der Raum stellt sich als eine Art Büro heraus. Vor dem Fenster steht ein Schreibtisch, davor zwei Sessel und an der Seite ein großer, runder Tisch mit vielen Stühlen. Dahinter ist ein Riesen großes Bücherregal, voll mit alten Büchern. Es überrascht mich, so etwas hier zu sehen. "Setz dich.", weist er mich an und zeigt auf die Sessel. Wird er sich jetzt allen Ernstes an den Schreibtisch setzen, wie bei einem Bewerbungsgespräch? Doch als ich mich setze, dreht er den Sessel und setzt sich mir gegenüber in den anderen. Breitbeinig und nach vorne gelehnt sitzt er da, verschränkt die Hände ineinander und sieht mich an.

"Ich habe dir gesagt, dass ich herausfinden werde, was hier abgeht.", beginnt er. Ich atme tief ein und aus und nicke. Ich spüre förmlich, wie etwas Schlimmes auf mich zukommt. "Dein Bruder hat Schulden gemacht, nicht wahr?" Er weiß es sowieso schon. Ob das wieder ein Test ist, ob ich kooperiere? "Ja.", sage ich und nicke. "Der Typ, der dich angegriffen hat, heißt Hitch. Er ist ein Zuhälter aus einem anderen Ort und vergibt gerne fragwürdige Kredite." Was bitteschön hat mein Bruder mit einem Zuhälter zu tun? "Dein Bruder schuldet ihm eine gewaltige Summe. Du kennst den Betrag wahrscheinlich schon.", seufzt er und lehnt sich nach hinten. Ich nicke. "Antworte mir richtig.", sagt er genervt. "Ja, es sind 10.000€." Beschämt schaue ich auf meine Schuhe. Ich komme mir vor, wie bei einem Verhör.

"Wir beide haben ein Problem, Julie.", sagt er und streicht sich nachdenklich über sein Kinn. "Dein Problem ist, dass dein Bruder verschwunden ist und somit seine Schulden nicht begleichen kann. Mein Problem ist, dass dadurch Streit in meinem Viertel ausbricht." Innerlich stelle ich mich bereits darauf ein, von ihm an Hitch übergeben zu werden. "Hitch ist mir schon länger ein Dorn im Auge. Dieser Wichser weiß nicht, was Respekt ist. Er kommt einfach so in mein Viertel, ohne um Erlaubnis zu fragen..." Er spricht mehr mit sich selbst, als mit mir, so versunken wie er in seine Gedanken ist. Dabei ballt er seine Fäuste zusammen. "Es tut mir Leid.", bricht es aus mir heraus. Die Angst überkommt mich einfach und ich weiß nicht mehr, wohin mit meinen Emotionen. "Was tut dir leid?", sieht er mich verwirrt an. "Ich weiß nicht, alles... Ich wollte dir keinen Ärger machen und ich bin mir sicher, dass Etienne das auch nicht wollte."

Eine Weile ist es ruhig um uns, bis Mat aufsteht und die Stille durchbricht. "Dir braucht es nicht leidzutun, was dein Bruder getan hat. Ich weiß, dass du von all dem keine Ahnung hattest. Deswegen mache ich dir ein Angebot." Er geht um den Schreibtisch herum und setzt sich tatsächlich hin. Er öffnet die oberste Schublade und holt eine Packung Zigaretten hervor. Er neigt sie in meine Richtung, doch ich lehne dankend ab. Dann nimmt er eine Zigarette heraus und zündet sie an. Als er genüsslich den Rauch auspustet, lässt er sich nach hinten an die Lehne fallen. "Ich begleiche die Schulden deines Bruders." Mit großen Augen starre ich ihn ungläubig an. Habe ich mich gerade verhört? "Ich zahle die 10.000€. Aber dafür stehst du erst einmal in meiner Schuld." "Was bedeutet das?", frage ich.

"Es bedeutet, dass du mir ein oder zwei Gefallen tun musst. Ich werde es dich wissen lassen und du wirst tun, was ich dir sage. Du wirst hier her kommen und du wirst mir helfen. Dann sind wir quitt." Ohne darüber nachzudenken gehe ich auf dieses Angebot ein. Was kann schlimmer sein, als dieser Hitch?

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now