Blaues Auge

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"So ein verfluchter Wichser.", schreit Mat in die Nacht hinein. Die anderen entfernen sich ein Stück von ihm. Sie wissen wohl, was am besten zu tun ist, wenn er so ist. "Ist alles in Ordnung?", fragt Milo und in seinem Blick liegt dieses Mal ernst gemeinte Sorge. Ich nicke. "Ja, alles gut. Ihr seid gerade rechtzeitig gekommen.", sage ich und lege meine Hand auf meinen Arm. Genau auf die Stelle, wo dieser eklige Typ mich gepackt hat. Mat atmet schnell ein und aus und tritt gegen den Mülleimer, der auf dem Parkplatz angebracht ist. Keiner sagt ein Wort oder versucht in irgendwie zu beruhigen. Stattdessen zünden sie sich eine Zigarette an.

Nach einigen Minuten hat Mat sich wieder beruhigt und kommt in unseren Kreis. Sein Auge verfärbt sich bereits dunkellila. Er stellt sich neben mich und dreht sich zu mir. "Was hat er gesagt?", fragt er vollkommen aus der Puste. "Er hat von Russen gesprochen.", sage ich. Die anderen Blicken sich vielsagend an und Mat fährt sich durch sein mittlerweile zerzaustes Haar. "Okay.", sagt er dann. "Das war gut, Julie. Das hilft uns wirklich weiter." Nachdenklich wendet er sich von mir ab. Vor meinem geistigen Auge spielt sich das Bild von eben ab. Wie dieser Typ mich angesehen hat, wie er mich berührt hat. Erst als jemand meinen Namen sagt, realisiere ich, dass ich angefangen habe zu weinen. "Ist wirklich alles in Ordnung?", fragt Parker. Schnell wische ich mir die Tränen weg. "Shit. Ja, alles gut...", sage ich. Mat sieht mich prüfend an, dann zieht er seinen Pullover aus und ein schwarzes, lockeres T-Shirt kommt zum Vorschein. "Zieh den an, du zitterst.", sagt er und drückt mir den Pullover in die Hand. Ich ziehe ihn über, sofort umhüllt mich der Geruch seines Aftershaves. Es riecht wirklich verdammt gut. Der Pullover ist viel zu groß und geht mir fast bis zu den Knien. Ich schaue an mir herunter und als ich hochblicke, sehe ich ein kurzes Schmunzeln auf seinem Gesicht.


"Warum hast du eben geweint?", fragt Mat mich, als wir im Auto sitzen. Er hat angeboten, mich direkt nach Hause zu fahren, deshalb sitzen die anderen fünf in einem anderen Wagen. "Nicht so wichtig.", flüstere ich. "Beantworte meine Frage.", herrscht er mich an. Sein Blick ist stur nach vorne gerichtet und ich seufze. "Es ist ein furchtbares Gefühl, so angesehen und so berührt zu werden.", gestehe ich und muss aufpassen, dass mir nicht wieder die Tränen kommen. "Ich bin doch nur hier, weil ihr mich wie ein rohes Stück Fleisch dem Typen vor die Nase werfen wolltet." Ich sehe aus dem Fenster, um die glänzenden Augen zu verstecken. Mat rutscht unruhig auf dem Sitz hin und her. Gerade als ich mich darauf gefasst mache, von ihm zurechtgewiesen zu werden und Dinge zu hören wie: Du machst das hier, um die Schulden für deinen Bruder zu bezahlen; wird seine Stimme sanft. "Ich habe dich so losgeschickt, weil ich wusste, was für ein Tier dieser Typ ist. Ich hätte niemals zugelassen, dass er dir etwas tut." Ich beruhige mich allmählich wieder und nicke. Dann verziehe ich das Gesicht, weil mir einfällt, dass ich ihm richtig antworten soll. "Tut mir Leid.", sage ich. "Diesmal ist es ok.", schmunzelt er.

Als die Uhr genau auf drei springt, halten wir vor unserer Wohnung. "Tut dein Auge sehr weh?", frage ich. Erstaunt sieht er mich an, als hätte er vergessen, dass er ein blaues Auge hat. Es ist mittlerweile ein bisschen angeschwollen. "Nein, ein blaues Auge kann mir nichts ausmachen.", sagt er. Ich nehme all meinen Mut und den Restalkohol zusammen und atme tief ein. "Ich habe oben eine Creme gegen die Schwellung." Er beißt sich auf die Lippe. "Wieso hast du eine Creme gegen sowas zu Hause?", fragt er amüsiert. "Etienne kam oft mit einem blauen Auge nach Hause." Bei dem Gedanken an Etienne wende ich den Blick ab. Ich wusste meist nicht einmal, wieso er das blaue Auge hatte. "Also schön.", sagt er, schnallt sich ab und öffnet die Tür. Überrascht sehe ich ihm nach. Mit so einer schnellen Reaktion darauf hätte ich nicht gerechnet.

Als wir vor unserer Wohnungstür stehen bleiben, frage ich mich kurz, wieso ich das eigentlich getan habe. Wieso habe ich ihn eingeladen mit in unsere Wohnung zu kommen? Ich öffne vorsichtig die Tür und trete ein. Ein Glück hat Maman nichts unordentlich gemacht. Unsere Wohnung ist sehr einfach und schlicht. Die Möbel sind etwas älter, die Dekoration eher dürftig, doch es ist meist sauber und gepflegt bei uns. "Warte dort.", sage ich und zeige auf das Sofa im Wohnzimmer. Er nickt und ich gehe ins Bad, um die Creme zu suchen. So aufgeregt, wie ich bin, zittern mir die Hände und ich schmeiße diverse Dinge im Bad um, bis ich sie finde. Dann komme ich zurück und sehe, wie er durch das Wohnzimmer läuft. "Da bin ich wieder.", sage ich und er dreht sich zu mir. "Warst du schon mal in Frankreich?", fragt er und deutet auf die Bilder. Es sind Fotos meiner Eltern vor dem Eiffelturm, von der Landschaft und vom Meer. "Nein, noch nie.", sage ich. Dann setzt er sich auf das Sofa und ich öffne die Creme.

Ich gebe etwas davon auf meinen Finger und drehe mich zu ihm. "Darf ich?", frage ich und deute auf das Auge. Er nickt stumm. Dann stelle ich mich dicht vor ihn und als ich das Auge berühre, zuckt er kurz zusammen. Er hält die Augen geschlossen, während ich die Creme vorsichtig verteile. Dann gehe ich einen Schritt zurück und er öffnet das Auge wieder. "Das kühlt.", stellt er fest. Ich lächle. "Ja, und morgen sollte die Schwellung zumindest weg sein. Gegen die Farben kann ich leider nichts machen."

Betretenes Schweigen breitet sich im Raum aus. Mat sieht sich noch einmal um, dann steht er auf. "Ich sollte gehen.", sagt er dann. "Ja.", nicke ich. Ich bringe ihn zur Tür und als er geht, dreht er sich noch einmal um. "Hattest du Angst, wir würden dich mit dem Typen alleine lassen?", fragt er plötzlich. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Wie kommt er denn jetzt darauf? "Nein.", antworte ich, dann dreht er sich um und geht.

Als ich die Tür schließe, fällt mir auf, dass ich seinen Pullover noch anhabe.

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now