Hilfsbereitschaft

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"Wie sollte das überhaupt funktionieren? Etienne ist doch kein Zuhälter.", frage ich irgendwann. Mat seufzt. Ihm tut es sichtlich Leid, mir die Wahrheit zu erzählen, doch auf der anderen Seite hat er diesen undurchdinglichen Blick. "Das weiß ich nicht genau, aber ich kenne einige Tricks dieser Typen. Ein Schönling spricht eine Frau im Club an, macht ihr schöne Augen und Versprechungen und wenn sie einwilligt, landet sie schneller bei Hitch, als sie gucken kann. Ich denke, er sollte der Lockvogel für ihre Machenschaften werden." "Aber er ist abgehauen. Er hätte das niemals gemacht.", sage ich voller Überzeugung. Mat hingegen sagt nichts mehr dazu.

"Hier, das kannst du jetzt besser gebrauchen als einen Kaffee.", Mat reicht mir ein Glas mit Whiskey. "Nein, ich trinke so hartes Zeug eigentlich nicht.", sage ich unsicher. "Jetzt schon.", sagt er und führt das Glas an meinen Mund. Ohne weiter nachzudenken, kippe ich die brennende Flüssigkeit runter. Ich kann nicht anders, als das Gesicht zu verziehen und zu husten. Mat beobachtet mich amüsiert. "Wie alt bist du eigentlich?", fragt er dann. Ich muss lachen. "Das fragst du mich, nachdem du mich in einen Club geschleust und mir Whiskey eingeflößt hast?" Auch er muss lachen und schüttelt dabei den Kopf. "Ich bin 17. Und du?", frage ich. Ich muss gestehen, des Öfteren schon über sein Alter nachgedacht zu haben. Er ist auf jeden Fall älter als ich, vielleicht so alt wie Etienne, aber so richtig einschätzen kann ich es nicht. Seine Tattoos lassen ihn älter wirken. "Ich bin 21.", antwortet er und kippt den restlichen Whiskey. Ein Jahr älter als Etienne also.

"Was soll ich jetzt machen?", frage ich. "Was meinst du?" "Wegen Etienne. Ich kenne nun den Grund für sein Verschwinden, aber ich weiß trotzdem nicht, wo er steckt und auch nicht, ob er jemals wiederkommen wird. Seine Schulden sind doch nun beglichen, ich kann es ihm nur nicht erzählen, weil er nirgendwo erreichbar ist.", seufze ich frustriert. "Das ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst. Etienne hat in unserem Kreis ziemlich verkackt. Jeder weiß, was er für ein Spielchen getrieben hat und keiner wird ihn hier freundlich emfpangen." Auch er nicht? "Wieso hat er das nur gemacht?" Immer und immer wieder stelle ich mir die selbe Frage. "Wieso macht man Dinge? Du tust bestimmt auch Dinge, die du nur tust, weil du hier aufgewachsen bist. Bei Männern ist das noch einmal eine ganz andere Stufe.", erklärt er. Und auch wenn es sich für mich im ersten Moment klischeehaft anhört, bemerke ich schnell, wie recht er damit hat. Ich glaube nicht, dass ich kiffen würde, wenn ich woanders aufgewachsen wäre. Ich würde wahrscheinlich nicht einmal die Schule schwänzen, aber jetzt gehört es eben dazu. Ich bin damit aufgewachsen, niemand hat uns gesagt, dass es schlecht ist, stattdessen hat jeder mitgemacht. "Du hast recht." "Ich werde mich weiter umhören, vielleicht finde ich heraus, wo Etienne steckt. Aber wie gesagt: Mach dir nicht zu viele Hoffnungen." Ich nicke resigniert.

"Dein Auge sieht schon viel besser aus.", stelle ich nach einer Weile fest. Es ist noch leicht verfärbt, aber nichts mehr im Vergleich zu dem Abend, an dem Fabio ihm eine reingehauen hat. "Ja, aber bald schon bekommt er das nächste Veilchen.", sagt Milo, der mit den anderen in die Küche stürmt. Sie lachen und Mat zeigt ihnen den Mittelfinger. "Hast du unserer kleinen Kentikian bericht erstattet?", fragt er belustigt. "Ja, habe ich. Das Thema ist durch.", sagt Mat streng und blickt dabei starr zu Milo. Dieser hebt die Hände und geht einen Schritt zurück. "Nein, wenn er etwas zu sagen hat, soll er das gerne machen.", greife ich ein. Mat sieht Milo immer noch mit einem Todesblick an, doch dieser schaut nun zwischen uns hin und her. "Was solls.", seufzt er und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. "Ich verstehe nicht, wieso du so viel für deinen Bruder tust. Er ist ein Arschloch, der dich im Stich gelassen hat." Autsch, das tut weh. Ich beiße die Zähne zusammen und wende meinen Blick ab. Mat hingegen ballt die Fäuste zusammen. "Nein, Mat. Er hat recht.", pflichte ich ihm bei. "Jetzt wo ich weiß, woher die Schulden kommen, habe ich das Gefühl, meinen inneren Frieden zu finden. Etienne hat so viel vor mir verschwiegen und mich mit so vielen Problemen allein gelassen." Milo sieht Mat mit einem Habe-ich-doch-gesagt-Blick an, doch dieser signalisiert ihm ein stummes "Ich bringe dich um."

Ich sitze noch eine Weile zwischen den Jungs, die sich gegenseitig auf den Arm nehmen und von ihrer Sporteinheit noch so aufgedreht sind, dass ich das Gefühl habe, zwischen lauter kleinen Jungs zu sitzen. Ich lache seit langer Zeit mal wieder richtig laut los und nach einiger Zeit bemerke ich, wie Mat mich beobachtet. Er schaut schnell weg, doch da ist es schon viel zu spät. "Mat, sag doch auch mal was und mach hier nicht einen auf tiefgründiger Denker.", beschwert Jason sich, der gerade von Emre mit einem Spültuch attackiert wird. "Ihr zwei regelt das schon. Ich hole jetzt deine Sachen, Julie. Dann solltest du langsam los. Er steht auf und geht aus dem Raum. Die anderen werfen sich wohlwissende Blicke zu und ich versuche sie zu ignorieren. Ich bin nicht blöd, ich habe selber schon gemerkt, dass Mat sich mir gegenüber plötzlich viel netter verhält. Und ich habe auch bemerkt, wie viel ich die letzten Tage an ihn gedacht habe. Ich schaue auf mein Handy, um mich von den Blicken ablenken zu können. Es ist bereits 18 Uhr, ich war über zwei Stunden hier.

„Also schön, dann sehen wir uns am Freitag.", sagt Mat zum Abschied. Ich schüttle hastig den Kopf. „Nein, tun wir nicht. Sabine hat mir gekündigt wegen Freitagabend.", erkläre ich und hoffe, dass es nicht wie ein Vorwurf klingt. „Achso.", sagt er nur und nickt zum Abschied. DAS war merkwürdig.

Matthew - My Guardian and Guilt / Abgeschlossen.Where stories live. Discover now